Eine berührende Mitteilung macht Hedwig Just-Keri, die Lehrerin einer gut sechsjährigen Erstklässlerin. Sie lebt mit ihrer Mutter, der Vater hat die Familie vor einem guten Jahr verlassen und pflegt keinen Kontakt mehr. In der Schule kann sie – hochgradig zerstreut und verträumt – dem Unterricht nur kurzzeitig folgen. Beim Rechnen während individueller Nachhilfe fällt auf, dass das Kind zwar leidlich addieren kann, aber bei Aufgaben mit der Lösung 5 versagt. Die Lehrerin fragt, ob es etwas gegen die Zahl 5 habe, und hört ein gedehntes «Nein». Wochen später berichtet die Mutter, die Kleine habe nach ihrem Alter gefragt. Sie werde sieben, habe sie geantwortet. Schade, habe das Kind gemeint: «das schönste Alter ist drei und fünf Jahre. Ich möchte nie älter werden» (1930, S. 480–481).
Thesi Bergmann kann als Beispiel genommen werden, wie sich eine – analytisch gut ausgebildete – Nachhilfelehrerin auf ein Kind einlässt, ohne die Grenze zwischen psychoanalytischer Pädagogik und einer Kinderpsychoanalyse zu verwischen. Der Bericht (1937, S. 29–43) dokumentiert das Ringen um eine Klärung eines komplexen Beziehungsdreiecks von Mutter, Klientin und kleinerer beliebter Schwester. Die Spannungen stören das schulische Arbeiten der Klientin massiv. Im Schutze einer guten Übertragungsbeziehung gelingt es der Pädagogin, der Klientin schrittweise zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Die Kombination von Nachhilfe und Gesprächen mit Klientin und Mutter entschärft die Problematik des hoch neurotischen Beziehungsgefüges immerhin so weit, dass das Kind eine anstehende schulische Prüfungshürde bewältigt.
Abgrenzungen zwischen Psychoanalyse und psychoanalytischer Pädagogik
Dass die psychoanalytische Pädagogik eine Gratwanderung zwischen den beiden Disziplinen versucht, war vielen Schreibenden bewusst. Vielerorts wird davor gewarnt, dass eine noch so begeisterte Lektüre psychoanalytischer Texte noch keine Lizenz zur Durchführung eigentlicher Kinderanalysen einschliesse.
Oskar Pfister – Pfarrer und einer der frühen Pioniere der Psychoanalyse in der Schweiz – macht sich in diesem Zusammenhang Gedanken um die Funktion eines «Schülerberaters», welcher unentgeltlich alle Kinder und Jugendlichen in Nöten unterstützen könnte. Gleichermassen an die Schule angebunden und von ihr unabhängig sollte er auch Eltern und Lehrer beraten. Er sieht diese Arbeit nach «analytischen Gesichtspunkten» und verweist auf die «Kleinanalysen», wie sie Zulliger beschreibt, und die «segensreich» wirken können. Bei schwereren Problemen fordert er aber «regelrechte analytische Behandlungen» (1927, S. 288–290).
Zulliger selbst schreibt: Es war der Psychoanalyse vorbehalten, zu entdecken und nachzuweisen, dass intellektuelle Hemmungen meist tiefere psychische Hintergründe haben, und sie zu lösen. Unter Umständen gelingt dies schon dem psychoanalytisch orientierten Pädagogen. Bei schwierigeren Fällen ist angezeigt, die Hilfe psychoanalytischer Therapeuten in Anspruch zu nehmen (1930, S. 431).
Der Sekundarlehrer Willy Kuendig formuliert hingegen dezidiert: «Psychoanalyse in der Schule gibt es nicht» (1927, S. 69). Er führt an, was Lehrpersonen für ihre Zöglinge tun können und sollen. Aber dies sei «niemals Psychoanalyse, sondern analytisch orientierte Pädagogik, das heißt Erziehung, welche sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze» mache (a.a.O., S. 70).
Nelly Wolffheim – Gründerin des ersten psychoanalytischen Kindergartens in Deutschland – zeigt sich erstaunt, wie viele Lehrer sich mit der psychoanalytischen Methode versucht hätten. Sie betont, dass «ohne eine gründliche spezielle Ausbildung und ohne Eigenanalyse die Ausübung des Analysierens (in welcher Form auch immer) unstatthaft» sei (1930, S. 387). Sie zeigt sich den Versuchen Zulligers gegenüber eher skeptisch, der – vor dem Hintergrund einer seriösen Ausbildung – analytisches Denken und Handeln auch in seiner Funktion als Dorfschullehrer pflegt.
Anna Freud nimmt zwar einen Erwartungsdruck pädagogisch Praktizierender wahr, in ihrer Ausbildung mit der Kinderpsychoanalyse vertraut gemacht zu werden. Solche unter Umgehung einer fundierten allgemeinen Ausbildung in Psychoanalyse machen zu können, sieht sie aber als unmöglich. Der Weg zur «vollen analytischen Ausbildung» und damit auch zur Kinderanalyse solle aber «dem in der Praxis bewährten Pädagogen und Heilpädagogen» offenstehen, «der die Mühe nicht scheut» (1932, S. 402).[1]
Auffassungen der Tätigkeit und Rolle der Erziehungsberatung
Frühformen der – noch nicht so genannten – Lerntherapie entstanden vor allem im Rahmen der Erziehungsberatung (vgl. 2.1). Die gut vertretenen Arbeiten der ZfpP zu dieser Disziplin verdienen deshalb besondere Aufmerksamkeit – ich greife heraus, was auch für die heutige Lerntherapie relevant sein dürfte.
August Aichhorn – einer der Begründer der psychoanalytischen Pädagogik – zeigt sich als beinahe altmeisterlicher Virtuose auf der Klaviatur von Übertragung und Identifizierung – im Text gleichermassen bezogen auf Eltern und Kinder oder Jugendliche (1936). Obwohl er auch Überweisungen in Beobachtungsstationen, Heime und in die Psychiatrie vornimmt, bei gängigen Schulschwierigkeiten klärt er zunächst Lernhemmungen psychischer Art. «Die meisten von ihnen werden von der Schule ganz typisch mit 2 Sätzen charakterisiert: ‹Das Kind kann sich nicht konzentrieren›, ‹Es könnte viel mehr leisten, wenn es wollte›« (1932, S. 470). Die Hintergründe kann er nur verstehen, wenn die Klienten eine positive Übertragung (Eltern) oder Beziehung (Kinder) zu ihm entwickeln, Vertrauen fassen. Er bemerkt: «Bei Schulkindern ist bei einer ersten Begegnung gewöhnlich die Schule ein für unser Gespräch verbotenes Gebiet» (1936, S. 51). Er lässt seine Klienten erzählen, geht aufmerksam mit – ohne, «dass der Konflikt und das anamnestische Material» mit «Fragebogen oder auf Grund einer auszufüllenden Drucksorte in eine von uns bestimmten Reihenfolge» gebracht werden (1932, S. 451). Wichtigstes diagnostisches Mittel ist die Beobachtung im Spiel, im nichtanalytischen Gespräch, auf Spaziergängen mit dem Kind (vgl. 1936, S. 60–61). «Viele Kinder bleiben von der Schule weg, machen ihre Aufgaben nicht, arbeiten in der Schule nicht mit und stören den Unterricht, weil niemand da ist, der sich für ihre Leistungen und das Benehmen in der Schule interessiert, der gute Schulleistungen lobt und schlechte tadelt. […] Wir haben in hunderten von Fällen ohne Anwendung psychologischer Kunststücke [Hervorhebung UK] ausreichende Hilfe dadurch geboten, dass wir das Vertrauen der vorgestellten Minderjährigen gewannen. Wir verstanden ihre Beschwernisse und Kümmernisse und gaben ihnen die Möglichkeit, ihr unbefriedigtes Zärtlichkeitsbedürfnis bei uns unterzubringen». Die entstehende Übertragung führt nicht zuletzt dazu, dass das Kind dem Berater Freude machen will: «Sehr bald werden dann Schulbücher und Hefte mitgebracht, […] die Schulaufgaben gelernt und geschrieben, […] und vom Schulschwänzen ist in kürzester Zeit keine Rede mehr» (1932, S. 457f.).
Fritz Redl – unter anderem Kinderpsychoanalytiker und zusammen mit Aichhorn 1934–36 Leiter der Wiener Erziehungsberatungsstellen – macht sich Gedanken zur Terminologie des Begriffs Erziehungsberatung (1932, S. 523–532). Was dort faktisch gemacht werde, entspreche schon lange nicht mehr dem, was die Leute darunter zunächst verstehen würden – was auch Quelle von Widerständen bei einzelnen Eltern und Erziehern sei (in diesem Zusammenhang interessant der Beitrag von Hans Schikola: «Die narzisstische Kränkung der Eltern durch die Erziehungsberatung» [1932, S. 515–522]). Redl regt an, dass Erziehungsberatung primär als Beratung und Begleitung der Eltern verwendet werden sollte. Die Arbeit mit den Kindern oder Jugendlichen selbst sieht er zunächst im Dienst notwendiger Diagnosen, aber durchaus auch als pädagogische Erziehungshilfe dort, wo die Eltern