«Lerntherapie kann [sowohl] für ‹einzelne Schüler› als auch für ‹Gruppen von Schülern› durchgeführt werden» (Rollett & Bartram, 1975, S. 83, vgl. dazu auch S. 88ff.). Für schulbezogene Lerntherapien wird aber postuliert, dass diese aus ökonomischen Gründen für Gruppen konzipiert werden müssen. Individuelle Diagnosen und Einzeltherapien wären nur dann durchzuführen, «wenn sich die Lernstörungen gegenüber den allgemein therapeutischen Massnahmen als therapieresistent erweisen.» Die Gruppentherapien sind dort angezeigt, wo es sich um «klar definierte und isolierte Lernstörungen, wie etwa Legasthenie, Konzentrationsschwäche, motorische Ausfälle oder ähnliches handelt» (a.a.O., S. 83). Zur Bildung «diagnostisch relevanter Lerngruppen» entwickeln sie ein Testinstrument (Kombiniertes Lern- und Persönlichkeitsinventar, KLPI) und bestimmen daraus mit Hilfe statistischer Verfahren Lerngruppen, welche sehr ähnliche Muster in den Subtest-Leistungen aufweisen. Pro Gruppe werden lerntherapeutische Vorgehensweisen abgeleitet (a.a.O., S. 108ff.). Entsprechendes wird auch für Gruppenpsychotherapien vorgeschlagen, welche störende innerpsychische Begleitumstände von Lernschwierigkeiten und Fehlentwicklungen im Sozialverhalten angehen können – auch hier durch «optimale Gruppierung der Klienten nach Symptombildern» (a.a.O., S. 89).
Eines der Kernkonzepte ist das der Anstrengungsvermeidung, zu dem Rollett und Bartram einen Test[13] entwickelt haben. Da ich diesen nicht zur Hand habe, behelfe ich mich mit der Magisterarbeit von Spöck (2011), welche das Verfahren breit darstellt. Interessant dabei: Mehr als die Hälfte der Test-Items, welche diese Tendenz messen, «wurden anhand gesammelter Schüler-Entschuldigungen, die verfasst wurden, um Anstrengung zu vermeiden, erstellt» (a.a.O., S. 20). Diese Anstrengungsvermeidung kann «als Schutzreaktion auf schulische Überforderung» verstanden werden (Rollett, 2004, S. 90) und ist damit verwandt mit der Misserfolgsorientierung des Risiko-Wahl-Modells von Atkinson (1957) – sozusagen als gelernte Vermeidungshaltung aversiver Emotionen eines Ich-kanns-ja sowieso-nicht (vgl. Spöck, 2011, S. 8).[14] Aus der Fülle belegter Zusammenhänge – bis heute Thema von Magisterarbeiten und Dissertationen – einige Beispiele: Anstrengungsvermeidung korreliert positiv mit der Zeit, welche für Arbeitsblätter der Vorschulförderung im Kindergarten aufgewendet wird; mit einem autoritären und Laisser-faire-Erziehungsstil (vs. einem sozial-integrativen) der Eltern; mit der schulischen Leistungsbeurteilung nach sozialer (vs. individueller) Bezugsnorm; mit hohem TV-Konsum – negativ mit Ergebnissen von Intelligenztests oder Skalen zur positiven Selbsteinschätzung et cetera (vgl. Rollett, 2004, S. 87–95). Die Autorin benutzt auch den Ausdruck, dass die Kinder mit Vermeidungshaltungen «durch eine lange Lerngeschichte stark überlernt» seien (a.a.O., S. 95). Ohne dass dies in den Arbeiten explizit erwähnt wird: Der Anstrengungsvermeidungstest scheint auch negative Auswirkungen des im Schulsystem implizierten Leistungswettbewerbs abzubilden, welcher sich in die Grundhaltungen der Schüler einschreibt und der ursprünglich-kindlichen Erfolgszuversicht im schlimmsten Fall den Garaus macht. Rollett zählt Anstrengungsvermeidung «zu den am schwierigsten zu therapierenden Reaktionen auf (schulische) Überlastung. […] Je unnachgiebiger die Leistungsansprüche der Außenwelt sind, desto massiver treten die Anstrengungsvermeidungstendenzen auf» (a.a.O., S. 87). Sie stellt aber auch einen detailliert begründeten Ablaufplan für eine entsprechende lerntherapeutische Intervention vor (Rollett, 2005, S. 105).
Unter dem Titel «Ansätze zur Lerntherapie» werden psychodynamische Therapien vorgestellt und mögliche Beiträge diskutiert. Die Idee dahinter: Bestimmte Formen eignen sich für bestimmte Problemlagen besser als andere (Rollett & Bartram, 1975, S. 83ff.). Später wird ein «multiaxiales Kategoriensystem der Therapierichtungen» den «Diagnosegruppen für die Behandlungszuweisung» gegenübergestellt (Rollett, 1994, S. 127f. und 132f.). Historisch interessant: Der älteste dieser Ansätze wird bei Anna Freud (1927) lokalisiert, welche die Rolle der Kinderpsychoanalytikerin um den Aspekt pädagogisch-erzieherischen Einflussnahmen erweitert.[15] Einen eigentlich «lerntherapeutischen Ansatz» finden Rollett und Bartram (1975, S. 85ff.) in der neoanalytischen Kinderpsychotherapie von Annemarie Dührssen (1960, vgl. S. 308–330): Weil die Behandlungsbedürftigkeit bei Schulkindern erfahrungsgemäss immer mit Schulschwierigkeiten einhergeht, sind auch Letztere diagnostisch zu berücksichtigen. Dührssen unterscheidet allgemeine Lernschwierigkeiten (Ängste, Lernprotest u.a.), welche sie psychotherapeutisch angeht, von spezifischen Lernstörungen (z.B. im Lesen, Schreiben, Rechnen; beim Einprägen von Lernstoffen oder Störungen im Arbeitsverhalten), welchen sie mit spezifischen therapeutischen Lernhilfen begegnet. Dies umfasst durchaus auch sozusagen lerndiagnostisches Arbeiten an schulbezogenen Inhalten – ohne, dass die Therapeutin systematische Nachhilfestunden selbst übernimmt. Sie hat allerdings dafür zu sorgen, «dass diesen Kindern von irgendeinem affektiv neutralen Menschen Nachhilfeunterricht gegeben wird» (a.a.O., S. 317).
1.5 Bilanz
Die Lerntherapie ist an deutschen Hochschulen entstanden. Das Team Rollett und Bartram bewegte sich während der 70er-Jahre im Dreieck Kassel, Osnabrück und Bochum. Die früheste belegbare Erwähnung des Begriffs Lerntherapie von Rollett und Bartram datiert aus dem Jahr 1972. Das zweite Team von Betz und Breuninger scheint zwischen Essen und München unterwegs gewesen zu sein. Ihre erste Publikation mit der Nennung des Begriffs Lerntherapie stammt von 1987, inhaltliche Vorprojekte datieren aber bereits Mitte der 70er-Jahre. Beide Langzeitprojekte verfolgen letztlich sehr Ähnliches, kommen ansatzweise zu vergleichbaren Vorgehensweisen und beide haben aufwendige Begleitforschung betrieben. Es besteht aber Grund zur Annahme, dass die beiden Teams einander wissenschaftlich schlicht nicht zur Kenntnis genommen haben – jedenfalls finden sich in den Literaturverzeichnissen beider Teams keine Hinweise auf das jeweils andere. Falls sich dieser Eindruck bestätigen sollte, wäre dies zumindest ‹eigenthümlich›.
Dies gilt natürlich auch für Armin Metzger. Wie er – um 1990 herum – zum Begriff Lerntherapie fand, lässt sich aus der Quellenlage nicht erschliessen. Man könnte seinen psychotherapeutischen Zugang in Sukzession der frühen psychoanalytischen Pioniere der Erziehungsberatung sehen – von ihm selbst wahrscheinlich unbewusst und sicher unbeabsichtigt, auch wenn er 1990 einige Autoren zwar anführt, in späteren Publikationen aber keine Bezüge mehr herstellt. Betz und Breuninger (1987) erwähnt er 2008 und 2014 – in je einem kurzen Hinweis, ohne inhaltlich auf ihre Konzeption einzugehen.
Wie auch immer – möglicherweise wurde dieses spezielle Rad von verschiedenen Pionieren individuell und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten erfunden. Dies ändert nichts daran, dass die Lerntherapie auf circa 50 Jahre gemeinsame Geschichte zurückblicken könnte – zusammen mit den informellen Vorläufern ‹avant la lettre› auf ziemlich genau 100 –, wenn denn die Unterschiede nicht zur Abschottung, sondern zu Austausch und Anregung verwendet worden wären. Die Begründungen dieser Unterschiede dürften auf die historisch, gesellschaftlich und schulpolitisch verschiedenen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung ebenso bezogen sein wie auf die individuell verschiedenen Curricula der Forschenden selbst. Verschiedene Zugänge zu gesellschaftlich relevanten Forschungsfragen haben vieles für sich und bereichern den wissenschaftlichen