Neurowissenschaftlich relevant ist, dass die kindliche Hirnentwicklung in den ersten Lebensjahren besonders rasant fortschreitet: In den ersten 3 Lebensjahren verdreifacht sich das Gewicht des Gehirns (Jäncke, 2017). Das bedeutet, dass die Hirnentwicklung in dieser Zeit Einflüssen aus der Umwelt besonders ausgesetzt ist – sich also vorrangig erfahrungsabhängig vollzieht – und deshalb Früherfahrung einen Einfluss darauf haben muss, wie das Gehirn später funktioniert. Aus diesem Grund stellen frühe Bindungserfahrungen wichtige Weichen für die kognitive Entwicklung des Kindes. Durch die feinfühlige Interaktion mit den primären Bezugspersonen werden wichtige Hirnareale (primäre und sekundäre Sinnes- und Bewegungszentren, limbisches System und Regionen im präfrontalen Cortex) trainiert und das Gehirn wird stärker vernetzt (Braun & Helmke, 2008). Damit schafft hohe elterliche Feinfühligkeit gerade in dieser frühen Phase das Grundgerüst für spätere (schulische) Leistungen, das Lernverhalten und soziale Interaktionsfähigkeiten des Kindes. Die normgerechte kindliche Entwicklung braucht hinreichend Anregung, emotionale Zuwendung und angemessenen «Input» für die biologische Programmierung der neuronalen Strukturen.
Bindungstheoretisch können diese Befunde damit erklärt werden, dass die frühkindliche Bindung zur Bezugsperson als sichere Basis fungiert, von der aus das Kind seine Umwelt erkundet. In der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres beginnt das Kleinkind, sich vermehrt allein fortzubewegen und seine Umwelt in grösserem Umfang zu explorieren. Das Kind kann durch Entwicklungsfortschritte in seiner Mobilität aktiver und selbstständiger die Distanz zur Bezugsperson regulieren und macht kleine Exkurse innerhalb sicherer Entfernung. Dabei sucht es insbesondere in neuen, unbekannten Situationen die Nähe zur Bezugsperson auf, um nach Hinweisen für Ermutigung respektive Rückzug zu suchen. Das Kind vergewissert sich stets, wo die Bezugsperson ist, und mit der Zeit genügt ein Blickkontakt zur Beruhigung des Kindes (sog. soziales Referenzieren). Die Bezugsperson ist die Sicherheitsbasis für die Erkundung der Umgebung und der «sichere Hafen», in den es nach Momenten des Explorierens zurückkommen kann, um sich emotional wieder zu stärken.
Das Kleinkind entwickelt das Explorationsverhalten als eine dem Bindungsverhalten gegenläufige Grundkomponente der menschlichen Natur (siehe Abb. 1). Das heisst, dass Bindung und Exploration manchmal in unvereinbarem Konflikt stehen (Sicherheitsbedürfnis versus Neigung, die Umwelt zu erkunden; Nähe versus Distanz zur Bezugsperson). Gleichzeitig sind sie voneinander abhängig, weil gesunde Autonomieerfahrungen nur möglich sind, wenn es für das Kind einen sicheren Rückzugsort gibt, von dem aus es sich in der Welt orientieren kann. Wenn die kindlichen Bindungsbedürfnisse von den primären Bezugspersonen feinfühlig befriedigt werden, kann das Kleinkind seiner angeborenen Tendenz zur Exploration der Umwelt in gesundem Masse nachgehen (Grossmann & Grossmann, 2003).
Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten
Die gesunde Entwicklung erfordert ein Gleichgewicht in beiden Bereichen, einen ständigen Balanceakt zwischen dem Bindungs- und dem Explorationsbedürfnis. Bei aktiviertem Bindungssystem gerät die Waage aus dem Gleichgewicht, da das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit mehr Priorität erhält als das Erkundungsbedürfnis. Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster aktivieren in Stresssituationen typischerweise das Explorationsverhalten auf Kosten des Bindungsverhaltens (Minimierung des Bindungssystems: abweisend-distanziertes Verhalten, eingeschränkter Blickkontakt, sachliche Beschäftigung). Bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern erhält das Bindungsverhalten in Stresssituationen typischerweise gegenüber dem Explorationsverhalten mehr Gewicht (Maximierung des Bindungssystems: übermässig anhängliches und anklammerndes Verhalten und gleichzeitig wegdrückendes, ängstliches und kontrollierendes Verhalten) (vgl. Tab. 1).
2.7 Praktische Implikationen für die Lerntherapie
Welche Implikationen hat die Bindungstheorie für die Lerntherapie? Lernen setzt Beziehung voraus – von Beginn des menschlichen Lebens an und über die gesamte Lebensspanne. Das in Abbildung 1 dargestellte Gleichgewicht zwischen dem Grundbedürfnis nach emotionaler Sicherheit und dem Lern- und Leistungsbedürfnis von Individuen kann in der Lerntherapie eine zentrale Rolle spielen oder nur latent im Hintergrund wirken. Veranschaulicht wird dies durch die Resultate einer Experimentalstudie mit Kindern im Alter zwischen 11 und 13 Jahren (Zemp, Bodenmann & Beach, 2014). Die Kinder sahen durch zufällige Zuteilung eine von drei kurzen Filmszenen im Forschungslabor: (1) einen Konflikt eines Ehepaars, (2) eine Sequenz aus einem Actionfilm für Kinder oder (3) eine ruhige Tierszene aus einem Naturdokumentarfilm. Unmittelbar vor und nach der Videodarbietung wurden die Aufmerksamkeitsleistung mittels eines Aufmerksamkeitstests sowie das emotionale Befinden der Kinder erfasst. Zusätzlich wurde während der Filmexposition die kindliche Hautleitfähigkeit als physiologischer Stressmarker gemessen. Die Resultate zeigten, dass der Paarkonflikt die Kinder emotional am stärksten aufwühlte, jedoch löste der Actionfilm höhere physiologische Erregung aus als der Paarkonflikt und der Naturfilm. Bemerkenswert war der Befund, dass die Konfliktszene die Aufmerksamkeitsleistung der Kinder stärker beeinträchtigte als der Actionfilm. Darüber hinaus zeigte sich, dass Kinder aus konfliktreichen Familien (d.h. Kinder, die zu Hause häufig ungelöste Konflikte zwischen den Eltern erlebten), die zudem physiologisch stark auf den Paarkonflikt reagierten, besonders starke Aufmerksamkeitsprobleme nach dem Konfliktvideo aufwiesen (Zemp, Bodenmann & Cummings, 2014). Beachtenswert ist, dass es sich bei diesen Ergebnissen um die Effekte einer einmütigen Filmszene mit einem Schauspielerpaar handelte. Es ist anzunehmen, dass reale Paarkonflikte im Familienalltag stärkere Auswirkungen haben, weil sie in der Regel länger dauern, häufig thematisch das Kind betreffen und beängstigender sind, weil es sich um dessen eigene Eltern handelt.
Die Studienresultate weisen darauf hin, dass das Erleben von häufigen Paarkonflikten zu Hause das elementare Bedürfnis von Kindern nach emotionaler Sicherheit in der Familie bedrohen kann. Sie sorgen sich um ihr eigenes und das Wohl der Eltern und sind verunsichert über die zukünftige Stabilität der Familie. Diese Bedrohung und Besorgnis können das Kind so nachhaltig beschäftigen, dass sie auf Kosten seiner Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung gehen. Das Verarbeiten dessen, was zu Hause vor sich geht, hat Priorität gegenüber dem Lernen und den Schulaufgaben und braucht mentale Kapazität, was den gesunden neuropsychologischen Funktionen abträglich sein kann. Die Relevanz dieser Befunde dürfte auch im Erwachsenenalter noch gegeben sein, da beispielsweise gut bekannt ist, dass Partnerschaftskonflikte häufig in den beruflichen Kontext überschwappen und das Leistungsverhalten der Partner im Job beeinträchtigen. Vice versa zählt beruflicher Alltagsstress zu den wichtigsten Ursachen für Partnerschaftskonflikte und Trennungen/Scheidungen (Bodenmann, 2000, 2016b).
Aus dieser Forschung lässt sich eine wichtige praktische Implikation für die Lerntherapie ableiten: Konflikte in sozialen Beziehungen (familiäre, partnerschaftliche, freundschaftliche, berufskollegiale etc.) verdienen bei der Diagnostik und Therapie von Lernschwierigkeiten besondere Beachtung durch die Fachperson. Es erscheint notwendig, dass in der Praxis insbesondere bei Kindern gründlich erfragt und berücksichtigt wird, ob familiäre Spannungen (bspw. elterliche Partnerschaftskonflikte oder Eltern-Kind-Konflikte) bestehen, unter denen das Kind nicht zur Ruhe kommen kann oder von denen es kognitiv und emotional in Anspruch genommen wird (Zemp & Bodenmann, 2015).
Gelingendes Lernen findet sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene in tragfähigen sozialen Beziehungskontexten statt. Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten gehen auch eine Form von Beziehung zu ihrer Klientel ein. Diese Beziehung kann zwar nicht als Bindungsbeziehung verstanden werden, dennoch stellen die Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten innerhalb des professionellen Rahmens verlässliche,