Das Durchbrechen dieses Kreislaufs erfordert neue Beziehungserfahrungen. In der Psychotherapie setzt man diese Möglichkeit der Veränderung aktiv ein, indem gegenüber der Patientin oder dem Patienten komplementäres, grundbedürfnisorientiertes Therapeutenverhalten gezeigt wird. Dieses soll die individuellen (Bindungs-)Bedürfnisse und Ziele der Patientinnen und Patienten (z.B. Anerkennung, Unterstützung, Zuwendung) erfüllen, um ihnen neue, korrektive Erfahrungen zu ermöglichen (Grawe, 2000). An dieser Stelle ist die Abgrenzung der Lerntherapie von der Psychotherapie hervorzuheben: Nie ist es das Ziel der Lerntherapie, unsichere Bindungserfahrungen oder Bindungsstörungen zu behandeln, wozu in der Regel eine langjährige Psychotherapie indiziert ist. Sehr wohl können die bindungstheoretischen Kenntnisse aber das Verständnis von Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten für die individuellen Lernschwierigkeiten und Schulleistungsprobleme ihrer Klientel erhöhen und ihre therapeutische Haltung und methodischen Zugänge beeinflussen. Die Qualität der therapeutischen Beziehung gehört zu den stärksten allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie (Grawe, 2000). Analog dürfte die Qualität der Beziehung zwischen Klientin oder Klient und Lerntherapeutin oder Lerntherapeut massgeblich zum nachhaltigen Erfolg der Lerntherapie beitragen.
2.8 Herausforderungen für Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten
Probleme beim Lernen in der Schule, in der Weiterbildung oder im Berufsalltag können viele Ursachen haben und erzeugen in der Regel erheblichen Leidensdruck, der das Kind, die Jugendliche oder den Erwachsenen und ihr soziales Umfeld belastet. Durch den wachsenden Druck verstärken sich üblicherweise die ursächlichen Schwierigkeiten mit der Zeit zusehends. Es entsteht ein ungünstiger Kreislauf, der meist nur durch das Eingehen auf die individuelle Problematik modifiziert werden kann. Langfristig wirksam ist die Lerntherapie dann, wenn es ihr gelingt, dem oder der Lernenden massgeschneiderte Unterstützung an die Seite zu stellen, die an seine beziehungsweise ihre Bedürfnisse angepasst ist. Zu den grossen Herausforderungen für Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten gehört somit das sensitive Einfühlen und Eingehen auf die Klientin oder den Klienten. Im Zentrum steht die lernende Person mit ihrer je eigenen biografischen Lern-, Leistungs- und Beziehungsgeschichte. In vielen Fällen sind nicht das didaktisch-methodische Aufbereiten des Lernstoffs, der Lerninhalt oder das Lernverhalten an sich prioritär. Die Lerntherapie kann darüber hinausgehen, indem sie die verschiedenen Einflussfaktoren der Lernschwierigkeiten in den Lernenden selbst und/oder in seinen oder ihren unmittelbaren Beziehungskonstellationen zu erkennen und dort wirksam anzusetzen versucht. Aufseiten der Lerntherapeutin oder des Lerntherapeuten setzt dies hohe professionelle Feinfühligkeit voraus und das achtsame Wahrnehmen von Grenzen des eigenen Handlungsradius.
Diese Herausforderungen machen den Berufsalltag von Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten gelegentlich zu einem komplexen und anspruchsvollen Wirkungsfeld. Es wird deutlich, wie vielseitig die pädagogischen und psychologischen Anforderungen an diesen Beruf sind. Ein integratives und ganzheitliches Problemverständnis der Lerntherapie, das Geist und Psyche des oder der Lernenden gleichsam im Blick hat, erfordert viel Feingespür für den Einzelfall. Es gilt sowohl das Vordergründige als auch die individuellen Hintergründe einer Lernproblematik gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten aufzugreifen und Mittel und Wege zu finden, Stressoren (Lernprobleme) zu reduzieren sowie Ressourcen (gelingendes, selbstwirksames Lernen) zu stärken. Insofern sind häufig die individuellen Lösungen die effektivsten. Aus diesem Bewusstsein heraus sind Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten in der Lage, die Lern- und Handlungskompetenzen ihrer Klientinnen und Klienten nachhaltig zu fördern.
2.9 Zusammenfassung und Schlusswort
Unter Berücksichtigung des gut gesicherten Kenntnisstands der Bindungsforschung wird die substanzielle Bedeutung von Bindung für die gesamte menschliche Entwicklung deutlich. Obgleich sich erste Bindungsmuster bereits im Kleinkindesalter beobachten lassen, zeigt die Bindungsforschung, dass Bindungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen bis in die Adoleszenz und darüber hinaus eminent wichtig bleiben. Hinzu kommen ab dem Jugendalter neue enge Beziehungen, die die menschliche Bindungsqualität weiterhin beeinflussen. Typische, wiederholt erfahrene Bindungserfahrungen sind damit lebenslang bedeutsam und spielen bei der Entwicklung des Lernverhaltens eine zentrale Rolle. Unsichere Bindungserfahrungen beeinflussen über psychologische Risikofaktoren wie ein niedriger Selbstwert, geringe Selbstwirksamkeit, ungünstige Emotionsregulation oder geringe Sozialkompetenzen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Lernschwierigkeiten sowie deren Bewältigung. Dahingegen gelangt ein Kind durch sichere Bindungserfahrungen zur Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort ist, und es kann sich als ausreichend wichtig und wertvoll erfahren, da auf seine Bedürfnisse verlässlich reagiert wird. Die feinfühlige Bezugsperson fungiert als sichere Basis, von der aus das Kind die Welt erkundet. Dieses verinnerlichte Vertrauen bildet einen Grundpfeiler für das psychische Wohlbefinden sowie das optimale Lernverhalten von Individuen.
Im lerntherapeutischen Kontext erhöhen die Erkenntnisse der Bindungstheorie und Bindungsforschung das Verständnis für Lernschwierigkeiten und Schulleistungsprobleme bei Kindern und Erwachsenen. Ein Bewusstsein dieser Hintergründe kann die professionelle Haltung und die therapeutischen Zugänge zu den Klientinnen und Klienten erleichtern, um eine nachhaltig wirksame Unterstützung zu bieten. Das Wissen um die elementare Bedeutung der Bindung als menschliches Grundbedürfnis kann in der Lerntherapie bewusst Eingang finden, indem die jeweiligen Beziehungskonstellationen der oder des Lernenden sowohl als mögliche Hintergründe oder Einflussfaktoren der Lernproblematik als auch direkt in der therapeutischen Beziehung achtsam und adäquat berücksichtigt werden.
Literatur
Ahnert, Lieselotte: Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung – Bildung – Betreuung: öffentlich und privat. Heidelberg: Springer, 2010.
Ainsworth, Mary: Feinfühligkeit versus Unempfindlichkeit gegenüber Signalen des Babys. In: Grossmann, Klaus E. (Hrsg.): Entwicklung der Lernfähigkeit in der sozialen Umwelt. München: Kindler, 1977, S. 98–107.
Bodenmann, Guy: Stress und Coping bei Paaren. Göttingen: Hogrefe, 2000.
Bodenmann, Guy: Lehrbuch Klinische Paar- und Familienpsychologie. 2., überarbeitete Auflage. Bern: Hogrefe, 2016a.
Bodenmann, Guy: Bevor der Stress uns scheidet. Resilienz in der Partnerschaft. 2. Auflage. Bern: Hogrefe, 2016b.
Bowlby, John: Attachment: Attachment and loss: Band 1. London: Hogarth Press, 1969.
Bowlby, John: Bindung (deutsche Übersetzung). München: Ernst Reinhardt Verlag, 2006.
Braun, Katharina & Helmke, Carina: Neurobiologie des Bindungsverhaltens: Befunde aus der tierexperimentellen Forschung. In: Ahnert, Lieselotte (Hrsg.), Frühe Bindung. München: Ernst Reinhardt Verlag, 2008, 281–296.
Brisch,