Sie hat nur eine Stunde für das Museum. Sie tut mir irgendwie leid. Ich ermuntere sie, allein zu reisen und berichte von meinen guten Erfahrungen. Allein unterwegs hat man wahrscheinlich mehr Kontakte als auf einem Kreuzfahrtschiff.
Ich genieße meine Freiheit.
Comodoro Rivadavia,
Perito Moreno
Nach Comodoro Rivadavia sind es mit dem Bus 440 Kilometer immer am Atlantik entlang. Nach einer Stunde Verspätung geht es endlich los, immer geradeaus – es ist faszinierend. Diese Reizarmut, immer dieselbe patagonische Steppe, es geht nur ums Fahren. Es ist der letzte Tag des Jahres, der 31. Dezember.
Das Hotelzimmer ist groß, ein toller Blick aufs Meer und es stürmt, riesige Wellen. Hier gibt es keine Touristen. Comodoro Rivadavia ist eine große wichtige Hafen- und Industriestadt. Ein Zentrum der Erdölförderung und -verarbeitung. Hier habe ich einen Stopp auf dem Weg in den Süden eingeplant, eine Übernachtung, weil die Strecken so weit sind und mehr als zehn Stunden mag ich nicht im Bus sitzen. Eigentlich will ich nicht länger als fünf Stunden im Bus sitzen, schließlich habe ich es nicht eilig. Aber immer klappt das nicht. Manche Reisende nehmen gerne die Nachtbusse bei diesen weiten Strecken, aber dann sieht man gar nichts und diese Busfahrten zeigen so viel vom Land. Aus dem Fenster zu schauen ist für mich wie einen Film über ein fremdes Land zu sehen. Und oft bin ich doch erstaunt, was ich alles in so genannten unattraktiven und hässlichen Städten erlebe und entdecke. Das möchte ich nicht missen.
Hier gibt es einen langen Strand, viele Bauruinen, langweilige Betonklötze, eine Menge Müll auf den Straßen, aber viele politisch interessante Graffitis. Meist geht es um Indigene und ihre Situation. Auch, so sagte man mir, sind die Künstler meist Indigene und äußern so ihre Meinung. Die Bilder an den Mauerwänden erzählen viel von ihrer Kultur und ihrer Diskriminierung. Sie sind auch eine Art Protest. Hier an den Häusern kann ihn jeder sehen. Diese Graffitis muss ich fast alle fotografieren.
Ich bin stundenlang am Wasser entlang gelaufen und habe seltene Vögel beobachtet. Die meisten gibt es dort, wo das Abwasser direkt ins Meer fließt.
Mein erstes Silvester allein in einem Hotelzimmer in einer völlig fremden Stadt. Ich hole mir ein Bier, da es keinen Sekt gibt und auch keine Touristen oder sonstigen Leute, die man ansprechen könnte, keine Feiern oder Veranstaltungen, wo ich gefahrlos hingehen könnte.
Das erste Mal in meinem Leben habe ich keine guten Vorsätze fürs neue Jahr. Ich bin gerade dabei, einen Traum zu verwirklichen. Ich bin zufrieden, ich bin unterwegs. Die Welt ist spannend – kein Paradies, aber spannend. Ich schaue etwas Fernsehen und kann um Mitternacht von meinem Bett aus am Himmel ein buntes Feuerwerk erleben. Mein Gott – es geht mir so gut.
An Neujahr gibt es ein reichhaltiges gesundes Frühstück. Eier, Brot, Obstsalat, Müsli, Joghurt, Käse, Kuchen. Ich bin in einem richtigen Hotel.
Am nächsten Morgen leider schon um 5 Uhr Weiterfahrt Richtung Süden in das Städtchen Perito Moreno und dann wieder Richtung Anden, weg vom Meer.
In Perito Moreno bin ich in einer Art Gasthof gelandet. Der Ersteindruck ist nicht überzeugend. Dieses Hotel ist nicht dreckig, aber für mich trotzdem irgendwie eklig. Vielleicht liegt es an der abgewohnten Einrichtung, an der hässlichen Gaststube, am komischen Geruch. Es gibt keine Touristen, die Gäste sind nur einheimische Männer, der Wirt – auf den ersten Blick ein widerlicher Machotyp. Das sollte sich im Laufe der Tage bestätigen. Bin gespannt, wie ich damit umgehen werde.
Ich hätte natürlich sofort fliehen können, aber ich will dies alles kennenlernen.
Immerhin gibt es Spaghetti. Darauf habe ich Appetit, mal was Gewohntes essen, von dem man auch annehmen kann, dass es keinen Durchfall macht, dass man damit sowieso gar nichts falsch machen kann – aber – man kann! Die Spaghetti sind fett und schwimmen in halblauem Wasser; dazu gibt es Ketchup. Nach drei Löffeln ist bei mir Ekelschluss. Ich bin eigentlich überhaupt nicht empfindlich, was Essen betrifft, aber hier kam wohl alles zusammen und das hätte ich nicht einmal einem halb verhungerten Hund angeboten.
Wie kann ich erklären, was ein argentinischer Macho ist? Ich erzähle mal ein Beispiel: In den Städten gibt es nur schmale Bürgersteige bei viel Autoverkehr. Wenn jemand entgegen kommt, muss eine Person zwangsläufig auf die immer dicht befahrene Straße treten. Das ist durchaus gefährlich, weil für die meisten Autofahrer Fußgänger keine Rechte haben.
Beobachtet man solche Situationen – und das tue ich ganz gerne –, Alltagssituationen, aus denen man lernt, wie so ein Land und eine Kultur funktioniert, dann ist es immer so, dass die Frau auf die Straße tritt, egal wie viele kleine Kinder sie an der Hand oder auf dem Rücken hat. In so einer Situation hat sich einmal Folgendes abgespielt: Der Bürgersteig extrem eng, ein Auto nach dem anderen auf der Straße, Rush Hour, und mir entgegen kommt ein Mann und hintendran offensichtlich seine Familie, Frau und drei Kinder. Als ich den Mann sehe, reizt es mich, weil er mir auch nicht sympathisch ist und ich wahrscheinlich auch nicht meinen besten Tag habe und er sieht eben aus wie ein Macho. Sorry: Vorurteile – habe ich auch. Mein Vielleicht-Vorurteil spitzt sich beim Näherkommen zu, als er offensichtlich noch seinen Brustkorb nach vorne schiebt – und dann ist es soweit: Keinen Schritt weiche ich zur Seite. Ich stehe und bleibe stehen, da ich nicht weiterkomme. Und er steht und steht mir gegenüber und er starrt mich ungläubig an, denn so etwas hat er mit Sicherheit noch nie erlebt. Und ich stehe da und bleibe stehen. Das hält sich so eine gefühlt schrecklich lange Anzahl von Sekunden. Mir kommt es wie viele Minuten vor. Aber ich bin nicht gewillt, auf die Straße zu treten.
Dann macht es klick, ein bitterböser, hoch verächtlicher Blick und mit einem „Bitteschön“ auf Spanisch tritt er auf die Seite, auf die Straße und lässt mich passieren.
Und als die Frau an mir vorbeigeht, da entschuldigt sie sich auch noch bei mir für ihren Mann.
Nun, ich muss gestehen, es gibt so sehr wenige Situationen im Leben, in denen man das Gefühl hat, gerade einen grandiosen Sieg errungen zu haben. Dies war so eine Situation.
Aber ich würde das niemals einer Frau weiterempfehlen. Das ist nicht ungefährlich. Wenn Menschen – diese Männer – das Gefühl haben, das Gesicht zu verlieren, können sie auch gewalttätig werden. Eine junge attraktive Frau hätte das nicht machen dürfen. Eine ältere, die von diesen Männern dann eher wie eine Mutter gesehen wird, begibt sich dabei nicht so in Gefahr. Machos hören immer auf ihre Mutter und folgen ihr.
Von Perito Moreno aus habe ich traumhafte Touren unternommen nach Chacarmata zu alten Höhlenzeichnungen durch faszinierende Schluchtenlandschaften. Diese Malereien sind alle frei zugänglich, weder abgesperrt noch geschützt. Auf den Grundstücken der Farmer gibt es noch viel mehr, aber die Farmer halten diese Orte geheim, sie wollen keine Touristen. Sie wertschätzen diese uralten Malereien auch nicht und schonen sie nicht. In den Höhlen liegen die Schafe. Das ist sehr schade.
Der Himmel ist immer blau, nachmittags wird es sehr heiß, über 30 Grad. Ich habe überhaupt keine Kleidung für diese Hitze. Ich habe gedacht, in Patagonien ist es kalt. So muss ich mein Nachthemd zum Sommerkleid umfunktionieren. Das fällt hier niemandem auf.
Ich besuche und besichtige eine große Farm und habe den Leuten Löcher in den Bauch gefragt. Mich interessiert einfach alles und die Menschen sind furchtbar nett. Mit dem Bus fahre ich nach Los Antiguos am Lago Buenos Aires, einem riesigen See mit Blick auf die schneebedeckten Anden. Auf dem Rückweg hält der Busfahrer an Aussichtspunkten, damit ich Fotos machen kann. Ich habe ihn gar nicht darum gebeten und es ist immerhin ein öffentlicher Bus, der gut besetzt ist. Unglaublich, so etwas wäre bei uns wohl undenkbar.
Was es so bei uns auch nicht gibt, ist, dass die Menschen Fremde hier oft anlächeln. Hat bei uns schon mal jemand Touristen angelächelt? Ich weiß nicht. Wie ist es überhaupt bei uns mit der Gastfreundschaft außerhalb von Touristenbetrieben? Was ist überhaupt Gastfreundschaft? Manche haben sie und manche nicht. Warum ist das so?
Am