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Die Diskussion um eine vorsorgliche Selbstbefreiung ist letztlich für die Praxis unerheblich, da nur zwei Varianten möglich sind. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen einer Insiderinformation bei rückwirkender Betrachtung vor, so ist sie als echte Selbstbefreiung zu behandeln. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so hat auch die Selbstbefreiung keine Relevanz.[156]
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Eine vorsorgliche Selbstbefreiung kommt insbesondere bei komplexen Sachverhalten, wie Unternehmensübernahmen, aber auch bei sonstigen gestreckten Sachverhalten, wie der Veröffentlichung von Geschäftszahlen, in Betracht. Eine Veröffentlichung der Geschäftszahlen wird regelmäßig erst erfolgen, nachdem sich der Gesamtvorstand mit ihnen befasst hat. Fraglich ist jedoch, wann bei einer unterstellten Kurserheblichkeit des Geschäftsergebnisses eine Insiderinformation vorliegt; erst mit Befassung des Gesamtvorstands mit den Zahlen oder bereits zuvor, beispielsweise wenn die Bilanzabteilung, die aus ihrer Sicht endgültigen Zahlen an den Finanzvorstand übermittelt oder zu einem noch früheren Zeitpunkt, wenn sich im Prozessverlauf aus Sicht der Bilanzabteilung ein überwiegend wahrscheinliches Gesamtbild der Zahlen ergibt. Nach früherer Auffassung der BaFin entsteht die Veröffentlichungspflicht erst, wenn das Geschäftsergebnis dem Vorstand oder dem sonst für die Veröffentlichung nach § 15 WpHG a.F., nunmehr Art. 17 MAR, Verantwortlichen des Unternehmens zur Verfügung steht.[157] Danach wäre mithin auf die Kenntnisnahme durch den Gesamtvorstand abzustellen und eine Selbstbefreiung im Vorfeld nicht erforderlich, es sei denn, ein anderes Gremium wäre für die Ad-hoc-Veröffentlichung verantwortlich. Die Befassung eines Ad-hoc-Gremiums mit den Zahlen, das jedoch lediglich einen Vorschlag zur Beschlussfassung zur Publizität für den Vorstand erstellt, würde mangels Verantwortlichkeit danach nicht die Ad-hoc-Publizitätspflicht auslösen.[158] Es steht zu erwarten, dass die BaFin Ihre Verwaltungspraxis, auch vor dem Hintergrund zum Umgang mit Zwischenschritten, anpassen dürfte. In ihren FAQ zu Art. 17 MAR hat die BaFin die bisherige Meinung nicht übernommen, dass die Veröffentlichungspflicht erst vorliegt, wenn diese den Verantwortlichen des Unternehmens zur Verfügung stehen. Nach ihrer derzeitigen Auffassung entsteht eine Insiderinformation im Zusammenhang mit dem Jahresabschluss dabei i.d.R. bereits vor Aufstellung/Feststellung des relevanten Abschlusses, allerspätestens aber mit Aufstellung durch den Vorstand.[159] Dies hat zur Folge, dass eine Selbstbefreiung ggf. nicht erst mit Aufstellung durch den Vorstand, sondern bereits zuvor vorzunehmen ist.
7. Selbstbefreiung durch Vorratsbeschluss
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Von einer vorsorglichen Selbstbefreiung, die bzgl. eines konkreten Sachverhaltes im Einzelfall in Anspruch genommen wird, ist ein Vorratsbeschluss mit dem Inhalt, stets von einer Selbstbefreiung Gebrauch zu machen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, zu unterscheiden.[160] Derartige Vorratsbeschlüsse werden nach nahezu einhelliger Ansicht zur Herbeiführung einer Selbstbefreiung nicht als zulässig erachtet.[161] Zur Begründung wurde nach alter Rechtslage angeführt, dass sich der Emittent gem. den Anforderungen des § 15 Abs. 3 S. 4 WpHG a.F. sowie § 8 Abs. 5 WpAIV mit der konkreten Selbstbefreiungssituation auseinanderzusetzen und die Selbstbefreiungsgründe zu prüfen habe.[162] Nichts anderes kann unter der Rechtslage der MAR gelten. Der Aufschub der Offenlegung der Insiderinformation erfolgt gem. Art. 17 Abs. 4 MAR „auf eigene Verantwortung“ des Emittenten. Laut ESMA bedeutet dies, wie schon nach alter Rechtslage, dass der Emittent sich mit der konkreten Insiderinformation und dem Vorliegen der Selbstbefreiungsgründe auseinandersetzen muss.[163] Gerade diese Voraussetzung allerdings würde ein Vorratsbeschluss nicht erfüllen.
2. Teil Emittenten-Compliance › 3. Kapitel Ad-hoc-Publizität in Unternehmen › E. Governance der Ad-hoc-Publizität
I. Implementierung eines Ad-hoc-Gremiums
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Die Pflicht zur Ad-hoc-Veröffentlichung trifft zwar den Emittenten und damit dessen Gesamtvorstand. Jedoch ist in der Praxis zu beobachten, dass er sich in größeren Unternehmen in Ad-hoc-Fragen von einem hausinternen Gremium beraten lässt. Durch ein solches Gremium lassen sich die mit einer Verletzung der Ad-hoc-Publizitätspflicht verbundenen Risiken von Bußgeldzahlungen sowie Schadensersatzansprüchen[164] reduzieren. Eine Verletzung der Ad-hoc-Pflicht kann mit einem Bußgeld bis zu 2,5 Mio. EUR oder bis zu 2 % des (Konzern-) Umsatzes des Emittenten bei juristischen Personen und bis zu 1 Mio. EUR bei natürlichen Personen geahndet werden, jedoch nur bei einem vorsätzlichen oder leichtfertigen Pflichtverstoß gegen Art. 17 MAR. Hinzu kommt die Veröffentlichung der Maßnahme mit Nennung des Namens auf der Webseite der BaFin, auch vor Bestands-/Rechtskraft („naming and shaming“). Im Rahmen von § 97 Abs. 2 WpHG ist als Verschuldensgrad für einen Verstoß gegen Art. 17 MAR grobe Fahrlässigkeit erforderlich, für deren Fehlen der Emittent darlegungs- und beweispflichtig ist. Eine Leichtfertigkeit bzw. grobe Fahrlässigkeit wird dabei umso weniger gegeben sein, je qualifizierter die an der Beurteilung der Ad-hoc-Publizität beteiligten Personen sind. Daher empfiehlt sich die Implementierung eines Fachgremiums zur Beurteilung der Ad-hoc-Publizität unterhalb der Vorstandsebene. Die wesentlichen Rahmenbedingungen der Tätigkeit eines solchen Ad-hoc-Gremiums sollten im Sinne einer adäquaten Governance in einer Geschäftsordnung mit folgenden Regelungsinhalten festgehalten werden:
– | Zielsetzung, |
– | Vorsitz/Mitglieder, |
– | Grundlagen der Zusammenarbeit und Rollen, |
– | Aufgabenbereich/Entscheidung, |
– | Beschlussfähigkeit/Beschlussfassung/Eskalation, |
– | Organisation und Koordination (Einberufung Sitzungen/Sitzungsprotokoll/Gäste). |
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Bei der Definition der Aufgaben stellt sich die Frage, ob das Ad-hoc-Gremium lediglich vorbereitend für den abschließend entscheidenden Vorstand Sachverhalte auf Ad-hoc-Relevanz inklusive Selbstbefreiungsmöglichkeit beurteilen soll. Alternativ kann das Gremium auch mit weitergehenden Befugnissen ausgestattet sein. Nach dem oben Gesagten ist der Vorstand nicht gehindert, die Erfüllung der Ad-hoc-Publizitätspflicht gänzlich zu delegieren. Die Letztverantwortlichkeit für die gesetzeskonforme Erfüllung der Ad-hoc-Publizitätspflichten verbleibt jedoch bei dem Vorstand als Organ des Normadressaten „Emittent“. Da zudem die Ad-hoc-Publizitätspflicht thematisch eng mit der allgemeinen Unternehmenskommunikation verzahnt ist, auf der regelmäßig ein besonderes Augenmerk des Vorstands liegt, wird in der Praxis grundsätzlich keine Volldelegation erfolgen. Eine Teildelegation in Bezug auf die Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Selbstbefreiung ist allerdings zur rechtzeitigen Reaktion in Eilfällen empfehlenswert. Eine Selbstbefreiung kann durch das Ad-hoc-Gremium schneller herbeigeführt werden, da der regelmäßig stark formalisierte Prozess einer Vorstandsbeschlussfassung nicht initiiert werden muss. Hierdurch reduziert sich das mit dem Nachschieben einer Selbstbefreiungsentscheidung verbundene Risiko.
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Voraussetzung einer Delegation von Aufgaben an das Ad-hoc-Gremium ist ein entsprechendes Mandat,