2 Das YouTube-Ökosystem
Damit wir verstehen, wie YouTube wirklich funktioniert, müssen wir uns zunächst anschauen, wie es als digitales Ökosystem funktioniert. Ein digitales Ökosystem funktioniert im Großen und Ganzen wie ein natürliches Ökosystem: Es gibt viele bewegliche Teilchen, und alle diese Teilchen wirken sich auf die Organisation als Ganzes aus. In der Grundschule haben wir etwas über den Energiefluss in einem natürlichen Ökosystem gelernt: Photosynthese, Pflanzen und Tiere, Zersetzung und Nährstoffumwandlung sind Teil dieses Kreislaufs. Jeder Faktor in dieser Kette hat seine Aufgabe zu erfüllen und, wenn er nicht richtig funktioniert, beeinträchtigt er den gesamten Ablauf.
Auch das Ökosystem von YouTube hat einen Fluss und einen Kreislauf, und die Beteiligten beeinflussen das Ganze, zum Besseren oder zum Schlechteren. Zu diesem digitalen Ökosystem gehören der Creator, der Zuschauer (oder Viewer), der Werbetreibende/die Marke (Brand), Urheberrechtsinhaber, Multi-Channel-Netzwerke (MCN) und YouTube selbst.
Hier folgt eine kurze Zusammenfassung der Funktionsweise von YouTubes Ökosystem: Creators erstellen Videos und laden sie auf YouTube hoch. Marken bezahlen YouTube dafür, Werbeanzeigen neben dem hochgeladenen Content abzuspielen, entweder vor dem Video oder währenddessen. Wenn ein Kanal die Voraussetzungen eines Ad-Sharing-Programms (zu Deutsch: Werbebeteiligungsprogramms) erfüllt, erhält er eine Beteiligung an den Werbeanzeigen, die auf seinem Content gezeigt werden. Marken setzen sich auch mit Creators in Verbindung, von denen sie glauben, dass sie die Markenbekanntheit bzw. den Gewinn steigern können. Dieses Influencer-Marketing macht einen großen Teil von YouTubes Ökosystem aus. Die Zuschauer interagieren mit dem Content, den Creators und Communities. Sie schauen, abonnieren, kommentieren, liken und disliken, speichern und teilen. YouTube als Website ist der Host des Ökosystems, aber als Unternehmen ist es auch ein Teil davon. Das Unternehmen YouTube muss sicherstellen, dass jeder in dem Ökosystem zufrieden ist. Es kümmert sich um Klagen und rechtliche Angelegenheiten. Letztlich legt es die Regeln fest, aber diese Regeln entwickeln sich im Laufe der Zeit aufgrund des Feedbacks vom Ökosystem und aufgrund dessen, was angegangen werden muss, weiter. MCNs spielten zu Beginn von YouTube eine große Rolle, indem sie Marken mit Creators verbanden und weitere Elemente der Creator-Erfahrungen verwalteten. Sie versuchten auch, bei Problemlösungen zu helfen, weil YouTube zu der Zeit noch nicht über einen Support für Creators verfügte. Creators müssen nicht mit MCNs zusammenarbeiten; sie können ihre eigenen Kanäle verwalten und direkt mit Marken verhandeln oder mit Agenturen zusammenarbeiten, um den Kontakt zu Marken herzustellen. Schlussendlich wollen Urheberrechtsinhaber, dass ihre ursprünglichen Werke ihnen zugeschrieben werden, ohne gestohlen oder kopiert zu werden. Sie wollen, dass alle finanziellen Vorteile aus diesem Content zu ihrem ursprünglichen Content zurückkommen.
Um Teil dieses digitalen Ökosystems zu werden, musst du die Rolle eines jeden Beteiligten verstehen, insbesondere die Rolle, die du besetzen möchtest. Wenn du zum Beispiel Creator bist, mache dich mit den Richtlinien von YouTube vertraut, damit dein Content monetarisiert wird und auch monetarisiert bleibt. Klaue oder kopiere nicht den Inhalt eines anderen, aber wenn du beabsichtigst, Ausschnitte aus Filmszenen, Songs oder anderem urheberrechtlich geschütztem Material zu verwenden, wisse, wie du rechtmäßig damit umgehst. Der Erfolg deines Contents hängt davon ab, wie gut du deine Rolle im Ökosystem verstehst. Deine YouTube-Erfahrung sollte über das Starten eines Kanals und das Hochladen von Videos hinausgehen. Genau genommen wirst du, wenn das deine Methodik ist, nie Zuschauer (Viewer) erreichen. YouTube belohnt Original-Content, der für ein spezifisches Publikum erstellt wird. Wenn du also das System erlernst und die Regeln befolgst, werden deine Videos eine bessere Chance haben, gesehen zu werden.
Vorsicht vor Copyright
Die erste Überlegung in dem Ökosystem sollte dem Viewer gelten. Wenn niemand da ist, der das Video sehen will, ist das übrige Ökosystem am Arsch. Als YouTube neu war, gehörten die Zuschauer zu einer recht spezifischen demografischen Gruppe, weil der Content auch ziemlich spezifisch war. Leute luden persönliche Videos hoch, um sie mit ihrer Familie und Freunden zu teilen, so dass sie ein Publikum hatten, aber wo das Publikum wirklich Wachstumspotenzial hatte, drängten sich die Unterhaltungschefs dazwischen. Leute luden Ausschnitte aus TV-Shows, Filmen, Comedy-Szenen usw. hoch. Zuschauer suchten auch nach Beiträgen über Popkultur und Nachrichten. Es war ein Leichtes, dieses Zeug hochzuladen, und es war ein Leichtes für den Viewer, es zu finden.
Von 2005 bis 2007 luden YouTuber Content im Großen und Ganzen unreguliert und unkontrolliert hoch. Darunter sicherlich auch viel Original-Content, aber eben auch geschützten Content, der von einer anderen Person oder Firma erstellt worden war. Offensichtlich war das eine unmittelbare Verletzung des Urheberrechtsinhabers am Content.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass YouTuber dies nicht heimlich oder böswillig taten. Sie wollten einfach Dinge teilen, die sie liebten, und das war ja so leicht. Erinnerst du dich an Napster aus der Jahrhundertwende? Für die unter euch, die in den 2000er Jahren geboren sind, lasst mich euch eine Geschichte erzählen.
Stellt euch eine Welt vor, in der ihr euch eure Lieblingsmusik nicht »on demand« anhören konntet. Die einzige Möglichkeit, euer Lieblingslied zu hören, war den ganzen Tag wartend vor dem Radio zu sitzen. Wenn ihr ein Lied »on demand« hören wolltet, musstet ihr das komplette Album kaufen, auf dem der eine Song war, den ihr hören wolltet. Dann kam Napster daher. Napster war die ursprüngliche, weit verbreitete Tauschbörse. Also praktisch der Pionier aller digitalen Medientauschplattformen im Internet. Audiodateien, zumeist Songs, wurden als MP3-Dateien getauscht und jedermann konnte jede Datei kostenlos herunterladen.
KOSTENLOS! Das war gigantisch für Musikfans auf der ganzen Welt – die Menschen liebten Napster. Wer wollte nicht unbegrenzten Zugang zu seinen Lieblingsbands für exakt null Dollar? Nun, ich nehme an, nicht jeder war Napster-Fan …, und zwar all jene, die mit Musikverkäufen hätten Geld verdienen sollen.
Wenn du den Ausgang der Geschichte nicht kennst, so wette ich, dass du dir denken kannst, was als Nächstes geschah. Klagewelle. Einstellung des Betriebs. Keine Überraschungen hier. Tatsächlich hatte Bill Clinton, damals Präsident der USA, kurz vor der Gründung von Napster dem Urheberrechtsgesetz Digital Millennium Copyright Act (DMCA) im Jahr 1998 per Unterschrift Gesetzeskraft verliehen. Das DMCA hat seither digitale Copyrightprobleme geregelt und die Strafen für Täter verschärft. (Allerdings gelten für Websites, die außerhalb der USA gehostet werden, die Regeln der Organisation für Geistiges Eigentum der Vereinten Nationen (United Nations World Intellectual Property Organisation (WIPO).) Was mit Napster geschah, bereitete von da an den Weg für die Regulierung von Medientausch.
YouTube hätte sich Unternehmen wie Napster als Beispiel für das nehmen können, was man nicht tun darf, und sein Content-ID-System ab dem Zeitpunkt der Eröffnung im Jahr 2005 implementieren können, tat es aber nicht. Im März 2007 verklagte ein kleines Unternehmen namens Viacom, nebst mehreren anderen, Google und YouTube auf 1 Milliarde US-Dollar wegen Urheberrechtsverletzungen. Reuters meldete, dass YouTube urheberrechtlich geschützten Content nur von der Seite nähme, nachdem ein Urheberrechtsinhaber dies verlangt hatte, aber dass vorab nichts unternommen werde, damit dieser Content gar nicht erst hochgeladen würde. Ein weiterer Tatvorwurf in dieser Klage war, dass YouTube dies wissentlich geschehen lasse, weil mit all diesem Content Geld verdient würde.
Das Content-ID-System sollte nicht vor 2007 eingeführt werden, die Betaversion im Juni und das vollständige Rollout im Dezember. Das ID-System heftete jedem neuen hochgeladenen Content einen einmaligen »digitalen Fingerabdruck« an. Nun konnte Content aufgespürt und mit bereits existentem urheberrechtlich geschütztem Content abgeglichen werden, so dass YouTube Verletzungen feststellen konnte.
Jetzt, wo das Gesetz existierte, musste YouTube einiges für Urheberrechtsinhaber regeln. Zunächst mussten sie den happigen Rechtsstreit beilegen (die Vergleichsbedingungen blieben geheim), aber sie mussten auch regeln, wie sie von nun an vorgehen wollten, und das Content-ID-System war die Antwort. Ich kann nicht