Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst. Martin André Steinert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin André Steinert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991300021
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Meine mittlerweile chronische Erkrankung und vor allem meine tiefe innere Zerrissenheit erdrückten meine Freude, weil ich nicht wusste, für WEN ich mich freuen sollte!

      Im Anschluss an meine Schulzeit stand ich nun vor der großen Frage, wie es weitergehen sollte. Einen Lehrberuf schloss ich schnellstens aus. Erstens weil ich nicht wusste, welcher der richtige für mich sein könnte. Zweitens weil ich riesige Angst davor hatte, von vornherein aufgrund meines Gesundheitszustandes abgelehnt zu werden. Nach schwerer Überlegung entschloss ich mich dann für ein Studium der Diplom-Agrarbiologie an der Universität Hohenheim, das ich noch im Jahr 1997 begann.

      Allerdings war es absolut keine freie Entscheidung, da meine Auswahl nicht ganz meinem Wunsch entsprach und ich mich von äußeren Meinungen leiten ließ, weil ich so wenig Selbstvertrauen hatte und ich in meiner Erkrankung keine Verantwortung für mich selbst übernehmen konnte.

      Vor allem bei großen Entscheidungen war ich wie gelähmt, weil ich mich nicht an einem konkreten Zukunftsziel orientieren konnte. Ich musste mich immer zuerst meinem „Suchtdruck“ beugen, der von mir verlangte, alles in meinem Leben so zu gestalten, dass ich nicht die Kontrolle über meinen Körper verlor. Folglich schied ein Studium fern meiner Heimat komplett aus, weil ich dann von zu Hause hätte ausziehen müssen. Das aber wäre für meine täglichen „Rituale“ und meine Sicherheit ein unmöglicher Gedanke gewesen. Genauso wie ich mir meine eigene Zukunft nicht vorstellen konnte. Ich stand absolut neben und fern von mir. Ich war eine andere Person, die ich nicht kannte und von der ich nicht wusste, was sie für Pläne hatte. Aus diesen Gründen wurde die so weitreichende Entscheidung für ein Studium zu einem „Mammutprojekt“, das ich selbst zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nicht stemmen konnte.

      Mein innerer großer Wunsch aber wäre ein Studium der Ernährungswissenschaften gewesen, weil ich mich immer mehr für Ernährungsfragen, Human- und Sportmedizin interessierte. Allerdings war klar, dass ich trotzdem nach Hohenheim wollte, weil ich dann täglich mit dem Auto pendeln konnte und mein „sicheres“ Zuhause nicht ganz aufgeben musste. Aber schon bei der Beratung waren alle sprachlos, warum gerade ich mich mit meiner Anorexie für ein so „schädliches Terrain“ der Ernährungswissenschaften entscheiden wollte.

      Und wieder war der zusätzliche Druck von außen zu groß. Also gab ich letztendlich schnell nach, ohne weiter auf meine innere Stimme zu hören. Ich war es gewohnt, meine Wünsche und Sehnsüchte nach innen zu verlagern, sie ganz tief in mir einzusperren und sie zum Schweigen zu bringen, indem ich meine Fassade noch härter gestaltete.

      Mein Studium der Agrarbiologie konnte gar nicht anders verlaufen, als dass es zu einer regelrechten „wahnsinnigen“ Irrfahrt wurde. Ich studierte, um mir weiteres Wissen anzueignen, das ich dann in hervorragenden Prüfungen von mir warf, ohne genau zu wissen, für was und welche berufliche Zukunft ich studierte. Ich fühlte mich wie ein Hamster im Laufrad, der lief und lief, ohne das Ziel zu kennen, aber auch nicht einfach aussteigen konnte, weil er sonst hart auf die Nase fallen würde.

      Das Studieren wurde zu einem täglichen Ritual, parallel zu meiner Sucht. Allerdings verliefen die ersten drei Jahre meines Grundstudiums bis ins Jahr 2000 noch relativ gut. Vor allem weil ich Gott sei Dank noch nicht erahnen konnte, was in späteren Jahren auf mich zukommen sollte! Die Fächer bis ins Hauptstudium entsprachen meinen Vorlieben und ähnelten denen der Ernährungswissenschaften sehr. So studierte ich relativ leicht und mit etwas mehr Freude als erwartet. Und durch diese „Sicherheit“ sorgte ich unbewusst dafür, dass ich mich trotz meines „Suchtdrucks“ in mir körperlich leistungsfähig hielt und phasenweise sogar erstaunlich stabilisierte. Vor allem nahm ich nicht weiter ab. Aber ich wollte auch kein Risiko eingehen. Die täglichen Fahrten nach Hohenheim und wieder zurück, das abendliche Laufen und Lernen forderten mich sehr. Und ich merkte, dass ich wenigstens morgens und abends etwas essen musste, um den Tag durchzuhalten. Dabei wurde mein Körper immer genügsamer, mit einem Minimum an Energie auszukommen und seine Folter anzunehmen. Und ich war zufrieden, wenn er als mein Instrument funktionierte, meine unglaubliche Stärke, Beständigkeit und Kraft meiner Umwelt zu beweisen. Ich wollte unbewusst allen zeigen, dass mein äußeres Erscheinungsbild nicht mit meinem eisernen Willen, meiner „wahren“ Identität übereinstimmte. Die wenigste Energie benötigte ich damals für mich selbst, mehr dafür, nach außen Signale zu senden, dass in meiner Hülle ein anderer starker Mensch steckte, den ich noch verleugnen musste, um ihn vor der Meinung meiner Umwelt zu schützen. Und zu zeigen, dass mich meine Umgebung weder einzuschätzen wusste noch richtig kannte.

      Aber dadurch konnte ich in meiner Sucht überleben und immer größere Herausforderungen annehmen. Denn sterben wollte ich (noch) nicht!

      Der beste Beweis für meinen Versuch, während meiner Anorexie immer wieder aus meinen Ritualen auszubrechen und dabei neue Grenzen zu überschreiten, waren meine geführten Wanderreisen, die ich mir ohne meine Eltern in zahlreichen Semesterferien zutraute. Sie führten immer in den Süden, hauptsächlich in die Schweiz und nach Italien, so z. B. in die Walliser Bergwelt, die Dolomiten, nach Zermatt und in die „Julier-Alpen“.

      Die Bergwelt zog mich magisch an. Tiefe Täler hinter sich zu lassen, indem große Gipfel erklommen wurden, bedeutete für mich Freiheit und die Chance, wenigstens in der Ferne lähmende Rituale durchbrechen zu können. Ich wollte den Himmel sehen und dabei über alle Spitzen hinwegblicken, frei und unbefangen atmen, die Klarheit der Natur in großer Höhe auf mich wirken lassen.

      Diese Erlebnisse waren die einzigen, die ich etwas bewusster aufnehmen konnte.

      Ich sog aus ihnen viel Energie, hauptsächlich für meine Psyche. Mein Körper dagegen musste mit einem Minimum zurechtkommen. Und ich trieb ihn an, immer noch ein paar Kilometer mehr zu wandern als die Gruppe, indem ich vielfach den Weg vor und zurück lief. Dabei waren mir die „erstaunten“, häufig ungläubigen Blicke der Gruppenmitglieder ziemlich egal. Ich wollte und musste nach außen Stärke zeigen, damit mein zerbrechliches Erscheinungsbild in den Hintergrund trat.

      Im Jahr 1999 trat auch der Sport wieder mehr in den Vordergrund. Ich suchte verzweifelt nach weiteren Möglichkeiten, um meinen Bewegungsdrang zu stillen und meinen eingefahrenen, eintönigen Studienalltag zu überwinden. An manchen Tagen wurde mir sogar meine Sucht zu viel. Ich musste dem riesigen Druck entfliehen, immer noch weniger essen zu dürfen. Deshalb war meine Strategie, länger durchzuhalten, die, mich lieber etwas intensiver mit ein paar Bissen mehr zu bewegen, als ohne Essen gar nichts mehr tun zu können.

      Ich entschied mich zum Laufen, mit gezieltem Rennrad-Training zu beginnen und ins Fitnessstudio zu gehen. Alles für meinen Wunsch, irgendwann an einem Duathlon-Wettkampf teilzunehmen. Und ich hatte damit wenigstens ein sportliches Ziel vor Augen, das meine Psyche und vor allem mein Durchhaltevermögen stärkte. Dass es zu einer absoluten Flucht am Limit werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen.

      Allerdings musste ich erneut gegen die weitläufige Meinung meiner Umwelt ankämpfen, dass dieser Sport mich nur noch weiter kaputt machen würde.

      Ich dagegen konnte in meinen Gedanken MICH nicht weiter zerstören, lediglich meinen Körper quälen, um psychisch zu überleben!

      Am meisten litten meine Eltern an meiner mittlerweile chronischen Erkrankung. Sie hatten alles versucht, um meine Anorexie zu „heilen“. Aber sie merkten auch, dass ich mich vor ihnen weitgehend verschloss, ihnen ständig auswich oder aber eine Besserung versprach. Sie konnten mir nicht weiterhelfen, weil ich es selbst verhinderte. Und letztendlich waren sie auch gegen weitere Therapieversuche, weil sie mit ansehen mussten, dass ich dadurch noch kränker wurde und noch mehr Gewicht verlor.

      Aus meiner heutigen Sicht möchte ich an dieser Stelle sehr betonen, dass meine Eltern absolut keine Schuld hatten, weder am Ausbruch meiner Anorexie noch an ihrem chronischen Krankheitsverlauf. Eine Sucht ist von außen kaum zu beeinflussen, wenn der Süchtige nicht selbst den Entschluss fassen kann, aus seiner Krankheit auszusteigen, absolut alle Kräfte dafür zu mobilisieren, die Sucht zu besiegen. Und ich selbst konnte damals noch nicht ausbrechen, weil der eigentliche Grund meiner Anorexie noch ganz tief als vernichtender Stachel in mir steckte. Ich war noch längst nicht so weit und bereit, mich meinen Eltern gegenüber zu öffnen. Aus zweierlei Gründen:

      Das Verhältnis zu meiner Mutter wurde schon zu Beginn meines