Doch dieses herzliche, tiefe Verhältnis zu meiner Mutter war auch der Grund, warum ich ihr nicht die Wahrheit sagen und mich ihr mit meinen tiefen Identitätsproblemen nicht öffnen konnte. Ich hatte zu große Angst, sie zu verletzen und ihr wehzutun, weil sie sich so sehnlichst ein Mädchen wünschte. Doch ihre großartige Hilfe, das unbeschreibliche Leid, das sie mit mir durchgemacht hat und ertragen musste, ohne daran selbst zu zerbrechen, sollte in ferner Zukunft noch belohnt werden!
Das Verhältnis zu meinem Vater dagegen wurde mit meiner Anorexie sehr viel schwieriger. Er konnte meine Erkrankung noch viel weniger verstehen als meine Mutter. Vor allem fühlte ich mich von ihm nicht verstanden. Seine Fürsorge bestand hauptsächlich darin, mich mit materiellen Dingen überaus gut zu versorgen. Doch das war mir damals viel weniger wichtig. Was ich mir von ihm sehnlichst wünschte, konnte er mir kaum geben. Es fiel ihm sehr schwer, Gefühle zu zeigen, und er konnte sie vor allem nicht in Worte fassen! Teilweise fühlte ich mich ihm gegenüber schuldig, wenn er wieder einmal absolut nicht mit meiner Erkrankung zurechtkam und mir mein „Handeln“ vorhielt. Seine Sorge war vielfach seine Härte, die ich spürte und die mir wehtat. Zwischen uns prallten Gefühlswelten aufeinander, die zu Missverständnissen und einem sehr angespannten, schwierigen Verhältnis führten. Ging es mir allerdings an manchen Tagen sehr schlecht, dann wurde er weich, und er konnte seine Fürsorge zeigen, mit Gefühl, wie ich es mir viel öfter gewünscht hätte. Doch durch seine Art, die er genauso wenig ablegen konnte wie ich meine Magersucht, hätte ich mit ihm niemals über meine Probleme reden können.
Aber meine Eltern haben alles gegeben, was sie in ihrem großen Leid und ihrer Verzweiflung, mich vielleicht doch zu verlieren, geben konnten. Viele Tränen und Kräfte steckten in der jahrzehntelangen Begleitung ihres Kindes. Auch wenn es weiter schwieg und ein Ende seiner furchtbaren Erkrankung nicht zu erkennen war.
Aber ohne sie und ihre unbeschreibliche Unterstützung wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt sein darf.
Doch die allergrößte Herausforderung stand erst noch vor ihnen und vor mir.
Ein Kampf meiner „Extreme“, die mich in eine weitere unumgängliche Abhängigkeit von meinen Eltern führte, anstatt mich von ihnen langsam, aber sicher zu lösen.
Meine Jugend hatte ich mir selbst geraubt, und erwachsen konnte ich nicht werden …
Im Jahr 2000 folgte ein Ereignis, das mich mit einem Schlag für weitere 16 Jahre in die Finsternis katapultierte, in deren Dunkelheit sich die meisten Zeitabschnitte für immer aus meinem Gedächtnis verloren.
Meine „ausgelöschten“ Jahre – Die Zeit zwischen 2000 und 2015
In meiner stabilsten „Phase“ wurde ich im Jahr 2000 vergewaltigt.
Nüchterne, trockene Worte für ein Ereignis, dessen Folgen ich bis heute nur schwer in Worte fassen kann. An dieser Stelle soll das Geschehen von mir auch nicht weiter beschrieben werden. Es wird im Kapitel „2016 – Das Jahr der Kontaktaufnahme“ von mir zweimal intensiv aufgegriffen, weil ich es solange tief in den Trümmern meiner Seele geheim hielt. Ich möchte daher bewusst in diesem Kapitel darüber „schweigen“ und auf meine Briefe weiter hinten verweisen.
Die Folgen für mich waren immens. Ich war zutiefst geschockt, gelähmt und körperlich sowie psychisch schwer gezeichnet. Meine Gefühle waren wie zementiert, und alles in mir schien zerstört, zerfetzt in tausend Stücke. Ich war keine Person mehr, sondern ein „Nichts“. Die letzte leise Stimme meines „gefangenen Ichs“ wurde vollends erdrückt und verhallte in mir. Meine Gedanken verliefen sich in dunklem Nebel, der mich immer weiter in die Tiefe zu drücken schien. Alles unterhalb meiner Gürtellinie war wie taub, und ich befand mich in einem gefühlten „Vakuum“, das mich immer weiter zusammenzog. Meine Umwelt verschwand hinter dem grausamen Film vor meinen Augen, der keinen realen Blick mehr erlaubte. Und ich hatte riesige Angst. Eine Panik, die mich nicht nur zu absolutem Schweigen zwang, sondern mich in die Flucht trieb. Ein Lauf von mir weg ohne Ziel, angetrieben von unbeschreiblichem Selbsthass und einer neu entfachten Selbstzerstörungswut.
Meine einzige Beruhigung fand ich in einem starken Schmerzmittel, einem Betäubungsmittel „Valoron“, das mir der Frauenarzt in der Not verschrieb, weil er mich nicht einmal richtig untersuchen konnte.
Bericht 1 – Mitteilungsblatt vom 16.11.2000
Fortan rannte ich von mir weg, und das Mittel dazu war mein Sport. Das Training wurde zu einem mörderischen Plan gegen meinen Körper. Doch nicht um mich dabei umzubringen, sondern erneut um mir von außen Anerkennung zu erkämpfen.
Aus meiner heutigen Sicht rettete mir der Ausdauersport zu diesem Zeitpunkt mein Leben. So provokativ diese Aussage auch klingen mag. Aber ohne meine sportlichen Wettkämpfe hätte ich mir wahrscheinlich sogar aus Verzweiflung das Leben genommen.
Ich lernte durch den Sport mich immer mehr auf einem Grat zu bewegen, den ich noch so breit „ausbaute“, um dabei nicht ganz abzustürzen. Vor allem wollte ich unbedingt meine letzten Kraftreserven möglichst lang für meine Leistung und den Erfolg aufrechterhalten.
Dass sich mein Körper dann zu einem viel späteren Zeitpunkt, ab dem Jahr 2005, rächen würde, konnte ich, 2001, Gott sei Dank noch nicht erahnen!
So tragisch meine sportliche Karriere begann und so sehr die Erfolge auch im Schatten meiner Flucht sowie Anorexie standen: Ich wurde immer besser und mutete mir im Jahr 2000 und 2001 einen Wettkampf nach dem anderen zu, deren Resultate für sich sprachen. Wenn auch nur auf Kreis- und Landesebene.
An dieser Stelle möchte ich einen kleinen chronologischen Abriss der Höhepunkte meiner „kurzen“ sportlichen Laufbahn einfügen, weil sie für mich unbeschreiblich wertvoll waren. Sie schenkten mir ein letztes Gefühl von „Leben“, wenigstens für einen kurzen Moment zwischen meiner „Trainingsqual“ und meiner Flucht am Limit:
Baden-Marathon Karlsruhe (Halbmarathon), 17.09.2000, Zeit: 1:23:40 Std., WHK, Rang 1
Bericht 2 – Stuttgart-Halbmarathon vom 01.06.2001
Stuttgart-Halbmarathon vom 01.06.2001
Meine ersten Wettkämpfe absolvierte ich schon im Jahr 1999. Im Juni dieses Jahres lief ich meinen ersten Halbmarathon beim „Stuttgart-Lauf“ und belegte als guten Einstieg Rang 4 in der Klasse „Frauen W20“ in einer Zeit von 1:32:20 Std. über die Distanz von 21,1 km.
Das Jahr 2000 verlief für mich dann noch weitaus erfolgreicher. Ein Bericht aus dem Wochenjournal meines Heimatortes zum Ende dieses Jahres beschreibt am besten eine kurze Zusammenfassung meiner Wettkämpfe:
Mit einem besonderen Höhepunkt in diesem Jahr:
Dann allerdings folgte das Wettkampfjahr 2001 mit einem ganz anderen Hintergrund. Mein Kalender war vollgespickt von Wettkämpfen, ich gönnte mir keine Pausen mehr und versuchte wie in „Trance“ alles Leid hinter mir zu lassen:
Baden-Württembergische Crossmeisterschaften, Bad Liebenzell, 3.02.2001, Frauen, Mannschaft, 4 km, MEISTER