»Die Volksschule ohne Selektion ist für mich ein gangbarer Weg«
Teil 2
Gespräche mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern
8.
»Ich habe Diktate zu Tode geübt«
»Den LehrerInnen ist nicht bewusst, wie es für Kinder ist, bloßgestellt zu werden. Ich glaube, sie machen das nicht extra«
»In meinem Beruf werde ich ständig konfrontiert mit meiner Lese- und Schreibschwäche«
Welche Spuren hat die Schulzeit bei Ihnen hinterlassen?
Ich habe in einem Diktat 40 Fehler gemacht und keine Unterstützung bekommen. Man wollte in der dritten Klasse etwas machen. Nach der Abklärung hat man wieder aufgehört. Für mich bedeutete Abschreiben immer Stress. Ich erfasste nicht wie die anderen ganze Wörter. Ich war auch dauernd hintendrein. Turnen und Singen muss man nicht ein Leben lang, Schreiben und Lesen schon.
Was ist Ihre Motivation, einen Teil Ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit zu tragen?
Mein Anliegen ist es, andere zu bewahren. In meinem Beruf werde ich ständig konfrontiert mit meiner Lese- und Schreibschwäche. Schwierig auch, dazu zu stehen, zum Beispiel bei einem Stellenwechsel. Der Aufwand, eine Bewerbung zu schreiben, ist riesig.
Inwieweit hat dieses Erleben Sie bestimmt in Ihrer Annahme über sich selber?
Ich habe resigniert, gedacht, ich bin zu blöd. Das, was noch möglich gewesen wäre, war dann auch nicht mehr möglich. Jeder Aufsatz, obwohl gedanklich gut, kam rot zurück! Ich kam mit anderen Anliegen in der Schule ebenfalls nicht an, wurde nicht ernst genommen.
Was hätten Sie gebraucht? Wer und was hätte Ihnen geholfen, damals und auch beim Verarbeiten heute?
Mein Vater ist gestorben, als ich fünf Jahre alt war. Meine alleinerziehende Mutter kam in der Schule auch nicht an. Sie hat mit mir in den Ferien die Buchstaben gelernt, weil ich mit der Lesen-durch-Schreiben-Methode nicht vorwärtskam. Wir waren zuweilen beide ungeduldig und verzweifelt. Geholfen hat mir der Sport. Mein Erfolg, eine Silbermedaille, hat meinen Selbstwert gestärkt.
Wer war mitverantwortlich für das, was Sie erlebt haben in der Schule?
Der Vater war nicht mehr da, die Mutter sagte auch nichts mehr. Die Politiker müssten mehr Geld geben für Förderprogramme. Die LehrerInnen sollten merken, was ist. Mein Leben wäre leichter, wenn man in der Kindheit etwas gemacht hätte.
Welche Spuren aus der Schulzeit sind geblieben, welche Wunden, welche Verletzungen? Gibt es auch positive Erinnerungen?
Jeden Tag, ein Leben lang verfolgt mich das. Ich kann nicht einen Beruf erlernen, den ich gerne möchte. Fortbildung zum Beispiel ist für mich schweißtreibend. Ich suche nach Stichworten und deren Zusammenhang. In der Betreuung von Lehrlingen bin ich beim Berichte-Schreiben auf Unterstützung angewiesen. Mir graut bei der Vorstellung, mich für eine andere Stelle bewerben zu müssen. Wie werden meine Vorgesetzten reagieren und wie meine Kolleginnen und Kollegen?
Was würden Sie einer betroffenen Schülerin raten?
Ich würde ihr sagen, dass sie nichts dafürkann, dass ihre Eltern aktiv sein müssen, dass den Lehrpersonen nicht bewusst ist, was sie anrichten. Ihre Eltern müssen Druck machen.
Kommentar:
Schule hinterlässt Spuren: A. litt als Kind an einer Lese-Rechtschreibschwäche. Bei Erwachsenen wird diese Schwäche als Illettrismus bezeichnet. Man geht davon aus, dass in der Schweiz rund 800.000 Personen betroffen sind, im Kanton Bern 70.000 Personen. A’s Beispiel zeigt, dass sich die Schule seit vielen Jahren schwertut im Umgang mit der Lese- und Rechtschreibschwäche bei Lernenden und dass sie ihrem Auftrag, Grundkompetenzen in der Muttersprache zu vermitteln, teilweise nicht gerecht werden kann – mit negativen Folgen für die betroffenen Kinder: schwaches Selbstvertrauen, geringes Selbstwertgefühl, schwache Lernmotivation, die zu eigentlichen Lernblockaden im entsprechenden Fach führen kann.
Die Überforderung der Schule im Umgang mit der Lese- und Schreibschwäche musste A. neun Jahre lang schutzlos ertragen – obschon nach der Bundesverfassung Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung haben (Art.11, BV).
Oder gemäss Bundesverfassung (abgeänderte Präambel):
»… dass die Stärke der Schule sich misst am Wohl der schwächeren SchülerInnen.«
Oder noch präziser: »… an der optimalen individuellen Förderung der SchülerInnen – und das unabhängig vom Bildungsgrad der Eltern. Integration und Inklusion sind nur möglich mit entsprechenden Ressourcen. Das Problem sind vor allem ungenügende Rahmenbedingungen«
Im Anschluss an die Lektüre des Gesprächs schreibt uns ein Kollege, wie wichtig es ist, Lernende ernst zu nehmen, sich in ihre Situation zu versetzen und allenfalls sein Verhalten als Lehrperson zu überdenken und zu ändern.
Sechstklässlerin lehrt einen Lehrer zu korrigieren
Die vor einer Woche verfassten Texte sind kommentiert, gewürdigt und zurückgegeben. Die Kinder sind daran, sie nachzubearbeiten. Einige stehen neben meinem Pult, um Beratung zu bekommen. Endlich kommt Monika an die Reihe – ein zielbewusstes, ordnungsliebendes Kind, aber in meinen damaligen Augen nicht besonders »schreibbegabt«.
Erregt knallt sie mir ihr Heft aufs Pult und wirft mir an den Kopf: »Herr K., ich habe mir solche Mühe gegeben beim Schreiben, und jetzt haben Sie mir alles ›verschmiert‹ mit Ihren Korrekturen.« Plötzlich sehe ich diese Seiten mit ihren Augen: Eine Schrift, der man ansieht, dass die Autorin sich Mühe gegeben hat. Und darübergelegt, nach Sitte meiner eigenen Lehrer, mit dickem Rotstift meine – leider ziemlich zahlreichen – Korrekturen.
Da ich Monika als beflissenes Mädchen kenne, pflichte ich ihr bei, um ihre verständliche Wut zu besänftigen: »Ja, das sieht wirklich nicht schön aus. Es tut mir leid.«
Fortan habe ich SchülerInnen-Texte sorgfältiger und nur noch mit Bleistift bearbeitet; dies beinhaltete zudem die Möglichkeit – als eine positive Herausforderung für schreibgewandte Jugendliche –, besonders gut geratene Texte nur noch anhand meiner Korrekturen in eine Endform bringen zu können, sie also kein zweites Mal schreiben zu müssen.
Gespräch mit U. S., 23. September 2014
U. besuchte mehrere Therapien, die er immer wieder abgebrochen hat, der freigesetzte Schmerz hätte ihn zu stark bedroht. Mit den in seiner Jugend getroffenen Entscheidungen kann er heute leben. Er ging immer davon aus, dass er jung sterben werde.
Das Gespräch gerät zwischendurch ins Stocken. Die Unsicherheit, ob sich der Befragte überhaupt äussern will, wird spürbar.
»Zwanzig Jahre lang hat man mir gesagt, ich sei dumm!«
»Die Angst zu enttäuschen und Misserfolg zu haben, begleitet mich ständig«
»Der Knackpunkt ist der, dass ich nicht lesen und schreiben kann«
»Ich bekam Texte zurück mit 45 Fehlern«
Das System Schule verfügte über zu wenig Instrumente, um auf wachstumsfördernde Bedürfnisse von U. einzugehen. Lehrpersonen und Eltern waren in gleichem Maße überfordert. Auch hier taucht die schmerzhafte Einsicht auf, dass U. kaum Schutz erhalten hat von der Institution Schule. Obschon die Verfassung diesen Schutz der Kinder und Jugendlichen klar fordert. Diese haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung (BV Art. 11).
Eine Forderung, die eine bestimmte Haltung der Lehrpersonen gegenüber den Lernenden bedingt. Eine Haltung, die bestimmte Rahmenbedingungen des Schulsystems voraussetzt, die jedoch nicht vorhanden sind, weil die Schule unterschiedliche, gegensätzliche Aufträge hat. In der Bundesverfassung nirgends erwähnt, im Alltag umso schädlicher vorhanden.
Beispiel: Selektionieren und Fördern. Fördern im Sinne