»Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen, hatte Albträume und Schlafprobleme«
»Die Aussagen des Lehrers gipfelten in der Feststellung, dass ich in ein Behindertenheim gehöre«
5.
»Und plötzlich bekam ich Freude am Lernen«
Gespräch mit M., Schüler BFF
Der Lehrer hat einmal erklärt: »Wer nichts begreift, hat eben Pech« Die Aussagen des Lehrers gipfelten in der Feststellung, dass ich in ein Behindertenheim gehöre. Er war übrigens auch der Meinung, dass die Mädchen alle Tussis sind.
Es gab so ein Stufenprogramm, d. h. bei Stufe vier flog man aus der Schule. M. wurde gleich zu Beginn in Stufe vier eingeordnet. Dies nicht zuletzt, weil er sich schlecht konzentrieren konnte. Zu den Schweizer Jungs war er ganz nett. Seine Eltern kamen aus Afghanistan. Sie sind eingebürgert worden, konnten M. jedoch nicht wirklich unterstützen, weil sie überfordert waren.
»Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen, hatte Albträume und Schlafprobleme. Ich bekam für eine Zeit ein Arztzeugnis. Schließlich gab es für mich in Mathematik einmal pro Woche eine Lektion Heilpädagogik. Das half ein wenig. Weil ich immer angeschrien wurde und überzeugt war, dass ich nichts wert bin, habe ich mich zurückgezogen und nichts mehr gefragt. Ich wurde ja doch in jedem Fach »gerilzt». (Gerilzt: RiLZ bedeutet: Reduzierte individuelle Lernziele H.J.)
In Lebenskunde hatte ich eine Lehrerin, die war gut zu mir. Sie hatte Angst vor diesem Lehrer-Kollegen. Ich glaube, dieser Lehrer ist ein Rassist, der die Dunkelhäutigen nicht mag.
Hier in der BFF ist alles anders. Hier gibt es für jede Schülerin und jeden Schüler eine Chance. Meine Lehrerin hat sich bemüht, die Akten von meiner Schule zu bekommen. Diese waren leider verschwunden. Jetzt habe ich Dank Herrn H., der sich meiner in Mathematik angenommen hat, einen guten Mathematiktest geschrieben und plötzlich bekam ich Freude am Lernen. Das ist für mich ganz neu! Er ist so ruhig und hat Geduld. Er schreit nicht. Ich hoffe sehr, noch eine Lehrstelle zu finden.
6.
»In schlechten Zeiten ziehe ich mich immer noch zurück und verstumme«
Gespräch mit M., Schülerin an der BFF
M. fühlt sich geehrt, einmal etwas über ihre Schulzeit aussagen zu können, das an die Öffentlichkeit kommt. Der Titel des Buches spricht sie an.
Ich wurde in der Schule achteinhalb Jahre gemobbt, saß zuhinterst in der Ecke und habe vieles nicht mitbekommen. Die Schule war für mich eine Hammerzeit. Von den Mitschülern wurde ich verschlagen, in den Schrank eingesperrt und herumgeschubst. Die LehrerInnen haben nichts unternommen. In Gruppenarbeiten blieb ich immer übrig. Mit mir wollte niemand arbeiten. Ich war die Außenseiterin und zog mich mehr und mehr in mich zurück. Meine Eltern haben ebenfalls gelitten. So richtig gut ging es mir im Kindergarten und im ersten Halbjahr der ersten Klasse. Da, wo wir vor dem Umzug lebten.
Noch heute spüre ich es körperlich, wenn ich an der Schule vorbeigehe, in der ich achteinhalb Jahre gelitten habe. Die Mutter und mein Stiefvater trösteten mich, wenn ich zu Hause weinte und nicht mehr zur Schule gehen wollte. Es wurde auch ein Psychiater eingeschaltet, der aber keinen Kontakt mit der Schule aufnahm.
In der vierten Klasse sprach mich mal eine Lehrerin an auf mein Befinden. Das gab dann etwas Erleichterung.
Weil ich keine Beachtung fand, prägte sich mir die Überzeugung ein, dass ich eh nichts kann. Infolge dieser Überzeugung schnitt ich schlecht ab in Deutsch und Französisch. Ich träume immer noch, dass ich in die Schule geschleppt werde, wie in der zweiten Klasse.
Ich besuchte dann auf Anraten der Schulsozialarbeit eine Gruppe von Gemobbten.
Das gab mir wenigstens die Einsicht, dass ich nicht allein bin.
In der 9. Klasse wurden die Schnuppertage limitiert, weil meine Leistungen nicht genügten. So fand ich keine Lehrstelle. Jetzt besuche ich die Anschlussklasse BFF. Ein Glück!
Von Anfang an hat mich erleichtert, was ich hier erlebe. Früher dachte ich, dass alle Schulen so sind. An dieser Schule hier sind tolle LehrerInnen, die mich fördern und mir Selbstvertrauen geben. So habe ich jetzt auch eine Lehrstelle gefunden als Malerin.
LehrerInnen sollten darauf achten, dass SchülerInnen nicht kaputtgemacht werden. Sie sollten Ohren und Augen nicht vor der Not der Kinder verschließen. In Einzelgesprächen sollten sie Vertrauen aufbauen helfen. Ein Teil der Not geht weg, wenn ich sie mitteilen kann.
Auch ihren Teil wird M. in Zukunft im Auge behalten, damit sich solches nicht wiederholt. Sie hofft, dass sie dann nicht wieder verstummt.
7.
»Das Allerwichtigste ist es, den Faden zur Schülerin, zum Schüler nie abreißen zu lassen«
Gespräch mit M., BFF Bern
Wir haben einen Schüler und eine Schülerin interviewt, die beide eine schwierige Volksschulzeit hinter sich haben. Wir sind erstaunt, was sie an Selbstwert in diesem Jahr BFF hinzugewonnen haben. Wie machen Sie das? Wir haben bei einem Verantwortlichen der BFF nachgefragt.
Unsere Klientel bringt eine Vielfalt an Erfahrungen und Schulgeschichten mit sich – aber auch Elternhäuser, die wenig Unterstützung bieten konnten. Eltern, denen das duale Bildungssystem fremd ist, resignieren, wenn ihre Kinder nicht Erfolg haben. Die Politik und damit die Volksschule nehmen die gesellschaftliche Realität mit den vielen verschiedenen soziokulturellen Hintergründen zu wenig wahr. Zu oft schafft die Schule gesellschaftliche Gräben, grenzt aus. Damit fehlt der Kitt in der Gesellschaft.
Was tun Sie konkret, um in dieser relativ kurzen Zeit Leute auf Kurs zu bringen?
Jedem gerecht zu werden ist ein hoher Anspruch. Wir müssen uns täglich fragen, wer was braucht und auch uns selber gegenüber immer Fragende bleiben. Das Kollegium in unserer Schule arbeitet eng zusammen und baut – ähnlich wie im Kindergarten – auf eine Kultur des Stützens und Entdeckens. Diese Philosophie ist der Schnittpunkt, nach dem wir uns ausrichten. Wir arbeiten im Team mit geklärten Rollen. Sowohl persönlich in der Arbeit mit den Lernenden, aber auch im Team ist es wichtig, die verschiedenen Rollen zu klären.
Pädagogisches Ziel ist es, dass wir von unserem Bildungsverständnis her den Fokus anders legen, als dies bisher in der Volksschule geschah. Entscheidend ist, den Faden zum jungen Menschen aufnehmen und in eine tragfähige Arbeitsbeziehung zu kommen. Dieser Beziehungsfaden darf nie abreißen, auch nicht, wenn Konfrontation angesagt ist. Ganz wichtig sind der respektvolle Umgang und die Achtsamkeit.
Welche Visionen haben Sie für die Zukunft der Volksschule?
Die Politik der kleinen Schritte müsste aufhören und der junge Mensch müsste im Zentrum stehen. Die Volksschule ohne Selektion ist für mich ein gangbarer Weg. Integration ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Jedoch erfahren wir mit den KMUs eine große Offenheit jenen gegenüber, die in der beruflichen Orientierungsphase Mühe haben – und dies in einer Zeit großer Zertifikatsgläubigkeit. Die heutige Gesellschaft grenzt immer mehr aus. Für unsere SchülerInnen ist Qualität oft ein Fremdwort: »Warum muss ich Qualität leisten?«
Eine Schule der Zukunft muss dem Migrationspluralismus mehr Rechnung tragen, als dies bisher der Fall ist. Lehrpersonen, die verstummt sind, müssen wieder mehr in den Vordergrund treten, ihre Bedeutung und ihr Wert müssen sichtbarer werden.
»Eine Schule der Zukunft muss dem Migrationspluralismus mehr Rechnung tragen«
»Zu oft schafft die Schule gesellschaftliche Gräben, grenzt aus«
»Unser Kollegium baut auf eine Kultur des Stützens und Entdeckens«
»Entscheidend ist in eine tragfähige Arbeitsbeziehung zum jungen Menschen zu kommen«