Auf dieser Basis will ich in der „zweiten Woche“ meine Christus-Beziehung vertiefen, statt falsche Kompromisse zu schließen und zu stagnieren. Ich suche und vertiefe sehr bewusst meine Berufung als Mensch und als Christ. Ich will mich in die Nachfolge Jesu begeben und ihm ganz bewusst nicht nur um seiner angenehmen Aspekte willen nachfolgen, sondern auch in eine Schicksalsgemeinschaft mit ihm eintreten – selbst da, wo es schwierig wird und keinen „Spaß macht“. Sehr nüchtern und realistisch sagt Ignatius dazu: Solange jemand mit der Dynamik der ersten Woche zu tun hat, wären Dynamiken der zweiten Woche „Dinge, die er nicht ohne Überspannung seiner Kräfte zu tragen und aus denen er keinen Nutzen zu ziehen vermag“ (GÜ 18).
Für den inneren Weg dieser zweiten Exerzitienphase legt Ignatius die geistliche Übung der „drei Weisen der Demut“ vor. Er erklärt zunächst, was er mit den ersten beiden Weisen der Demut meint, die sich an „Gott unseren Herrn“ richten. In der klassischen Ausdrucksweise seiner Zeit formuliert er: Ich möge Gott um seine Hilfe dafür bitten, dass ich keine Todsünde (erste Weise der Demut) und auch keine „lässliche Sünde“ (zweite Weise der Demut) begehe. Dann sagt er zur dritten Weise der Demut, die sich an Christus richtet: „Die dritte ist vollkommenste Demut, nämlich wenn ich, unter Einschluss der ersten und zweiten, wenn der Lobpreis und die Ehre der göttlichen Majestät gleich ist, um Christus, unseren Herrn, nachzuahmen und ihm aktualer ähnlich zu sein, mehr mit dem armen Christus Armut will und erwähle als Reichtum, Schmähungen mit dem davon erfüllten Christus mehr als Ehren, und mehr zu wünschen, als nichtig und töricht um Christi willen angesehen zu werden, der als erster dafür gehalten wurde, denn als weise und klug in dieser Welt“ (GÜ 167).
L(i)eben lernen
Das würde in heutiger Sprache für einen ignatianischen spirituellen Lebensweg heißen: Authentisch zölibatär lebende Priester erkennen die Versuchung und widerstehen ihr, vor sich selbst und anderen mit vielen Energien eine äußere Fassade aufrechtzuerhalten oder ein Doppelleben zu führen oder falsche Kompromisse und Kompensationen zu suchen. Sie arbeiten stattdessen kreativ daran, immer mehr das eigene Lebenskonzept zu realisieren, „das Gott unser Herr uns schenkt, um es zu erwählen“ (GÜ 135). Sie verstehen ihre jeweils einmalige Berufung als Geschenk Gottes an sich. Sie erfahren immer mehr, dass und wie die göttliche Initiative für ihr Leben ihrem menschlichen Handeln vorangeht. Sie glauben und hoffen, dass sie auch menschlich nicht „zu kurz kommen“, wenn sie ihr Leben in Demut in den Dienst Christi stellen.
Als äußeres Beispiel dafür kann das Gelübderitual bei der Feier der ewigen Profess im Jesuitenorden dienen, das diese Sichtweise sehr eindrucksvoll betont. Die Gelübdeformel mit dem Versprechen zölibatärer Keuschheit wird vor dem Kommunionempfang „super hostiam“ gesprochen, nicht vor der Gabenbereitung, was eher auf das eigene menschliche Tun hinweist. Wenn jemand meint, für Gott und für seinen spirituellen Weg immer wieder neue Opfer bringen und von anderen verlangen zu müssen, dann kann ein solches Leben letztlich nur scheitern. Jüngst fielen charismatische, anerkannte und autorisierte Priester-Gründergestalten geistlicher Bewegungen wegen schwerer Verfehlungen in ihrem sexuellen Verhalten aus einer teils grenzenlosen Bewunderung heraus. Die Zuschreibung, dass sie jederzeit und vollkommen das Gelübde zölibatärer Keuschheit gehalten hätten, erweist sich als völlig verfehlt. Vielmehr wird deutlich, dass es sowohl unehrlich als auch gefährlich ist, „unsere Sexualität unter Schutzkleidung zu verbergen oder sie wie einen Kernreaktor unter einer Betondecke zu begraben.“8
Was sind tieferliegende Ursachen? Eckhard Frick untersucht die Wirkungsgeschichte des „engelsgleichen Jünglings“ und Heiligen Aloisius Gonzaga9 und kommt zu dem Ergebnis: In der Aloisius-Hagiografie bündelten sich die Motive Engel – Reinheit – Keuschheit. Die asexuelle „Unschuld“ des heiligen Aloisius wird im Kontrast zur übersexualisierten Umwelt des höfischen Lebens gesehen und der Heilige den Betern als Vorbild und Kontrast vor Augen gestellt: „Psychoanalytisch gesprochen, wurde mit dem hagiografierten Aloisius der Typos eines ewigen Latenzzeitkindes geschaffen, der das ödipale Zündeln und Rivalisieren mit dem Vater hinter sich gelassen hat und sich durch zwanghaftes Festhalten an der Kindheit des Leibes und der Seele weigert, in die Pubertät zu kommen, durch Selbstkasteiung, Intellektualisierung, religiöse Schwärmerei. Jungianisch gesprochen: ein mutterfixierter Puer aeternus, der jede Festlegung vermeidet, die Großartigkeit und Altklugkeit des Kindes wahrt und damit auch die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Sexualität, Älterwerden, Chance und Krise von Beziehungen.“10
Aber wenn nicht so, wie dann? Wenn es in der zweiten Exerzitienwoche darum geht, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich in der Nachfolge Jesu auf Neues und Ungewohntes und Unvorhersehbares einzulassen, dann kommt dabei die affektive Dimension der Glaubensorientierung ins Spiel. Robert Marsh erörtert, was spirituell in der zweiten Woche geschieht.11 So ungewohnt wie eindrucksvoll führt er aus: Alle Gnaden der Exerzitien sind „erotisch“, denn das Begehren steht für Ignatius am Anfang jedes Prozesses, der eine Entwicklung voranbringt – Begehren nicht nur als Laune oder Fantasie, sondern als treibende Leidenschaft, die die Sprache des Eros rechtfertigt, auch wenn ihre Artikulation nicht offenkundig sexuell ist.
Das Begehren der Zweiten Woche intendiert nicht nur, etwas über Jesus zu wissen, sondern ihn zu kennen. Ignatius ist vollkommen zuversichtlich, dass Jesus zu kennen bedeutet, ihn zu lieben. Er kann sich nicht vorstellen, dass jemand Jesus innerlich kennt, ohne eine wachsende intensive Anziehung. In der zweiten Exerzitienwoche führt Kennen zum Lieben. Und durch das Begehren geht das Wissen in Handeln über – nicht irgendein Handeln, sondern das Handeln, das aus dem Lieben entsteht, und aus der Liebe zu dem, was der Liebende liebt. Wissen und Liebe bewegen zur Nachfolge, nicht irgendetwas zu tun, sondern mit ihm zu tun, was er tut.
Menschen zögern aus vielen Gründen, über erotische Elemente in ihrer Beziehung zu Gott zu sprechen. Sie spüren vielleicht ein Tabu, fürchten eine Verurteilung oder scheuen die eigene Verletzlichkeit. Oder es wurde ihnen nie gesagt und – was vielleicht am häufigsten vorkommt – sie haben einfach nicht gelernt anzuerkennen, dass diese erotischen Elemente existieren. Wenn Eros das Herz der zweiten Exerzitienphase ist, dann sollte es keine Überraschung sein, wenn diese Gnade manchmal eine explizit romantische oder nichtgenitale sexuelle Form annimmt.12
Ein Leben in der Dynamik der zweiten Exerzitienwoche ist ein Leben in der Beziehungszusage Gottes in Jesus Christus: Er opfert sich für mich – nicht ich muss mich für ihn opfern.13
Demut und Dienst
Das Geschenk Gottes bzw. Christi an mich beantworte ich mit dem Geschenk meines Lebens an ihn. Das ist gerade nicht eine reale (wie es angeblich Origenes tat) oder voluntaristisch-überhöhte symbolische Kastration. Sondern ich trete ein in eine dialogische und das eigene Leben prägende und im Gebet vollzogene Beziehung, die durch Demut und Dienst gekennzeichnet ist. Ignatius rät für die praktische Umsetzung: „So ist es für den, der diese dritte Demut zu erlangen wünscht, sehr nützlich, (…) zu bitten, dass unser Herr ihn zu dieser dritten, größten und besten Demut erwählen wolle, um mehr ihn nachzuahmen und ihm zu dienen“ (GÜ 168). Ignatius stellt sich vor, dass ich als Mitarbeiter Christi in eine lebensbestimmende Gemeinschaft mit ihm eintrete, mehr und mehr so lebe wie er und in dieser Beziehung menschlich und geistlich wachse (GÜ 147; 165). Die von ihm verfasste Ordensregel der Jesuiten drückt das, was ein Leben in der „dritten Weise der Demut“ ausmacht, so aus:
„Wie die Weltleute, die der Welt folgen, mit solchem Eifer Ehren, Ruf und Ansehen eines großen Namens auf Erden lieben und suchen, (…) so lieben und verlangen diejenigen, die im Geist gehen und ernstlich Christus unserem Herrn nachfolgen, inständig das ganze Gegenteil, (…) so dass sie sogar, wo es für seine göttliche Majestät nicht eine Beleidigung wäre und auch