Weil du mich anschaust und liebst, deshalb bin ich
Wie werden wir angeschaut? Wie blicken wir einander an? Mit Blicken sagen wir uns sehr viel: Zuneigung, Verliebt-Sein, Verachtung, Gleichgültigkeit. Wenn Blicke töten könnten…
Im Bernardisaal des Stiftes Schlierbach in Oberösterreich gibt es die Darstellung eines „Allbeobachters“, d.h. der/die Betrachter(in) wird vom Auge dieses Beobachters, der auch noch ein Fernrohr hat, angeschaut, wohin immer er/sie sich im Raum bewegt. Der „Allbeobachter“ kontrolliert, überprüft, ihm entgeht nichts, er schaut nie woanders hin oder einfach weg. Es kann tiefe Verstörung auslösen, unter ständiger Beobachtung zu stehen.
Im Gegensatz dazu trägt der liebende Blick Gottes im christlichen Verständnis die unmittelbar liebende Wertschätzung des Menschen in sich. Ähnlich wie in Schlierbach findet sich in der Turmkapelle des Brixener Doms in Südtirol ein Fresko eines „allsehenden Christus“. Wohin immer sich der Betrachter in der Turmkapelle bewegt, er wird von Christus angesehen. Im Menschen Jesus Christus wird das Antlitz Gottes sichtbar. Nikolaus Cusanus schreibt im 15. Jahrhundert zum „allsehenden Christus“: „Dein Sehen, Herr, ist Lieben, und wie dein Blick mich aufmerksam betrachtet, dass er sich nie abwendet, so auch deine Liebe. Soweit du mit mir bist, soweit bin ich. Und da dein Sehen dein Sein ist, bin ich also, weil du mich anblickst. Indem du mich ansiehst, lässt du, der verborgene Gott, dich von mir erblicken. Und nichts anderes ist dein Sehen als lebendig machen.“26
*Vortrag beim Tag der Linzer Hochschulen am 21. Oktober 2020.
1K. Wecker, Es geht zu Ende, in: Wut und Zärtlichkeit (Studioalbum). Sturm und Klang Musikverlag. München 2011.
2Aristoteles, Über die Seele II, 9, 421a, in: ders., Über die Seele. Nach einer Übersetzung v. W. Theiler bearbeitet v. H. Seidl (Philosophische Schriften, 6). Hamburg 1995.
3I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht (WW in 10 Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. 10/2: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik). Darmstadt 1983, 453.
4I. Kant, Über Pädagogik (WW in 10 Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. 10/2: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik). Darmstadt 1983, 691–761.
5I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (WW 7), 698 (B 54, A 50), 702 (B 60, A 56).
6T. W. Adorno, Stichworte. Frankfurt a.M. 1969, 99.
7Vgl. dazu K. Füssel, Der imaginäre Andere. Ideologiekritische Beobachtungen zur Intersubjektivität, in: H. U. v. Brachel / N. Mette (Hrsg.), Kommunikation und Solidarität. Freiburg/CH – Münster 1985, 101–116.
8T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (GW 4, hrsg. v. R. Tieddemann). Darmstadt 1998, 113f.
9Ebd., 85.
10 Ebd., 98.
11 Ebd., 213f.
12 F. Ulrich, Sprache der Begierde und Zeitgestalten des Idols, in: B. Casper (Hrsg.), Phänomenologie des Idols. Freiburg i.Br. – München 1981, 133–269, hier: 193.
13 A. Delp, Gesammelte Schriften. Bd. 3: Predigten und Ansprachen. Frankfurt a.M. 1983, 319ff.
14 Vgl. A. Gehlen, Anthropologische und soziale Überlegungen zum Problem der Autorität, in: ders., Gesamtausgabe. Bd. 7. Hrsg. v. K.-S. Rehberg. Frankfurt a.M. 1978, 486.
15 E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, in: ders., Gesamtausgabe VII (GA in 12 Bänden, hrsg. v. R. Funk). München 1999, 318.
16 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M. 1955.
17 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem Essay v. H. Mommsen. München 1964, 16.
18 Papst Franziskus, Enzyklika Laudato sí. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Vatikan 24. Mai 2015 (abgekürzt: LS).
19 J. B. Metz, Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute. Freiburg i.Br. 1991, 31.
20 Vgl. J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Mainz 51992, 70.
21 E. Dirscherl, Unser Körper in Zeiten einer „Revolution der Zärtlichkeit“. Von der Gnade des Spürens und dem Sinn der Sinne, in: IKaZ 45 (2016), 309–318, hier: 311.
22 Papst Franziskus, Predigt am 21.05.2018 anlässlich der ersten Feier des Festtages „Maria, Mutter der Kirche“.
23 Vgl. H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016.
24 Papst Franziskus, Amoris Laetitia. Nachsynodales Apostolisches Schreiben über die Liebe in der Familie (VApSt 204). 8. April 2016. Bonn 2016 (abgekürzt: AL).
25 Papst Franziskus, Enzyklika Fratelli tutti über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft. Assisi 3. Oktober 2020, Nr. 194.
26 Nikolaus von Kues, De visione Dei/Die Gottesschau, in: ders., Philosophisch-Theologische Schriften. Hrsg. u. eingef. v. L. Gabriel. Übers. v. D. u. W. Dupré. Wien 1967, Bd. III, 105–111.
Sexualität
N
Hermann Kügler SJ | Mannheim
geb. 1952, Priester, Pastoralpsychologe, graduierter Lehrbeauftragter für themenzentrierte Interaktion (TZI)