2.3. Polysystemtheorie
PolysystemtheorieEin von den Translation Studies aufgegriffenes Modell zur Funktionsbestimmung der übersetzten Literatur bietet die seit den 1970er Jahren sich stets entwickelnde PolysystemtheoriePolysystemtheorie des israelischen Kulturwissenschaftlers Itamar Even-Zohar. Dieser semiotisch orientierte systemische Ansatz knüpft an den Russischen Formalismus und Tschechischen Strukturalismus an, vor allem an die Werke Jurij Tynjanovs, Roman Jakobsons und Boris Ejchenbaums, übernimmt dessen Konzepte wie System und literarische Evolution1 und entwickelt sie weiter. Der Ansatz Even-Zohars ist als funktionalistisch zu bezeichnen, da er alle semiotischen Phänomene als Teile eines oder mehrerer Systeme begreift und diese auf ihre Funktionen und ihre wechselseitigen Beziehungen hin analysiert. Funktionalismus, oft mit dem Vorwurf des auf Saussure zurückgehenden statischen, in sich geschlossenen Systems ohne Einbeziehung außersystemischer Determinanten konfrontiert,2 kann hier jedoch eine dynamische Komponente sowie eine Erweiterung durch Einbeziehung außersystemischer Elemente erfahren, welche schon bei Tynjanovs Konzept der literarischen Evolution zu erkennen ist. So unterscheidet Even-Zohar u.a. zwischen der Theorie der statischen und der dynamischen Systeme.3
2.3.1. Polysystem, Zentrum, Peripherie
Zentral in seiner Theoriebildung ist das Konzept des Polysystems, definiert als „a multiple system, a system of various systems which intersect with each other and partly overlap“.1 Unter Übersetzung versteht der Polysystemiker den Vorgang der Translation eines Textes von einem kulturellen System in ein anderes2 und in Bezug auf die übersetzten Texte ist das Ziel der PolysystemtheoriePolysystemtheorie die Funktionsbestimmung des übersetzten Textes innerhalb des Polysystems der Aufnahmekultur. Hierbei sind übersetzte Texte lediglich ein System in dem größeren literarischen Polysystem, das seinerseits als ein (Sub-)System der sie umfassenden Polysysteme, wie etwa Kultur, fungiert. Die Polysysteme sind nach Even-Zohar offene, dynamische und stratifikatorische Systeme, gekennzeichnet durch die Anordnung von Zentren und Peripherien, die sich in einer steten zentripetalen bzw. zentrifugalen Interaktion befinden. Sein Ansatz, die Analyse der internen Wechselbeziehungen und Strukturen innerhalb soziosemiotischer Systeme, geht auf Tynjanovs Konzept der literarischen Evolution zurück, erweitert um eine synchrone Perspektive.3 Die Verschiebung der Hierarchien geschieht durch ein Gelangen von nicht-kanonisierten Texten oder Textgattungen aus der Peripherie des Polysystems in dessen Zentrum.4
2.3.2. Übersetzungen
In den literaturwissenschaftlichen Kanonbildungsprozessen sind die Übersetzungen, historisch gesehen, am ehesten an der Peripherie anzusiedeln,1 während einheimische, autochthone Texte und Gattungen zentral sind. Even-Zohar betrachtet die Übersetzungen hingegen nicht nur als „integral system within any literary polysystem“, sondern als „most active system within it“.2 Übersetzungen können von der Peripherie des Polysystems aus wandern und aktiv an der Gestaltung dessen Zentrums sein:
Through the foreign works, features (both principles and elements) are introduced into the home literature which did not exist there before. These include possibly not only new models of reality to replace the old and established ones that are no longer effective, but a whole range of other features as well, such as a new (poetic) language, or compositional patterns and techniques.3
Even-Zohar kristallisiert drei Faktoren heraus, welche die Bewegung von übersetzten Texten ins Zentrum ermöglichen. Zum einen sei dies möglich, wenn es sich um junge Literatur handele oder diese sich im Prozess der Etablierung befinde: Hier komme der übersetzten Literatur eine zentrale Rolle bei der Vermittlung literarischer Modelle zu. Zum anderen gelangen Übersetzungen ins Zentrum, wenn Literatur schwach (weak) oder peripher (peripher) oder beides sei. Aufgrund der Unfähigkeit, selbst Innovationen zu produzieren, bedarf es Übersetzungen nicht nur „as a medium through which new ideas can be imported, but also as the form of writing most frequently imitated by ‚creative‘ writers in the native language“.4 Der dritte Fall tritt ein, wenn es zu einer Krise (crisis), einem Wendepunkt (turning point) oder einem literarischen Vakuum (literary vacuum) in der Literatur kommt.5 Die Annahme, dass übersetzte Literatur sich entweder am Zentrum oder an der Peripherie eines literarischen Polysystems befindet, schließt hingegen nicht aus, dass es in verschiedenen Systemen zu verschiedenen Positionierungen kommen kann: Übersetzte Literatur als System ist an sich stratifikatorisch; während also bestimmte Bereiche peripher bleiben, können andere eine zentrale Position einnehmen. Die Beziehungen zwischen der Position der übersetzten Literatur und dem literarischen Polysystem beschreibt Even-Zohar anhand zweier Annahmen. Erstens, die Wahl der zu übersetzenden Texte ist von den Bedingungen des sie aufnehmenden Polysystems abhängig: „Texts to be translated are chosen because of their compatibility with the new forms needed by a polysystem to achieve a complete, dynamic, homogeneous identity“.6 In einem vakuösen Polysystem, dem es an literarischen Techniken, Formen oder Genres fehlt, werden diese durch übersetzte Texte transportiert, da das Polysystem sonst „defective“,7 mangelhaft bleibt.
Zweitens unterscheidet Even-Zohar zwischen den Übersetzungsstrategien, determiniert von den sozioliterarischen Bedingungen der Aufnahmekultur: Soll übersetzte Literatur innovatorisch wirken, bleibt sie näher am Originaltext der Ausgangssprache. Sind die Innovationen aber zu radikal für die neue Kultur, besteht die Gefahr, dass übersetzte Texte nicht ins neue Polysystem integriert werden können. Ist der neue Text hingegen erfolgreich, übernimmt er die Funktion der primären, d.h. einheimischen, nicht übersetzten Literatur. Die zweite Übersetzungstendenz internalisiert bereits etablierte Normen der Aufnahmekultur und bestätigt die dominanten ästhetischen Normen zulasten der Innovationen.
2.3.3. Gideon Toury: a target-oriented approach
Eine erhebliche Erweiterung erfährt der polysystemische Ansatz durch die Arbeiten des israelischen Kulturwissenschaftlers Gideon Toury. Die PolysystemtheoriePolysystemtheorie Even-Zohars bildet die Basis seiner theoretischen Konzeptionen, erweitert durch Tourys Feldforschungen zum Versuch einer umfassenden Übersetzungstheorie, welche als Publikation In Search of a Theory of Translation im Jahre 1980 erschien.1 Wie Even-Zohar verfolgt Toury den zielsprachlich orientierten Ansatz in seiner Übersetzungsforschung, vermeidet jedoch das häufig kritisierte abstrakte ideale Modell „Autor – Originaltext/ Übersetzung – Leser“. Für ihn stellt Übersetzung eine „norm-governed activity“2 dar, in welche mindestens zwei Sprachen und zwei kulturelle Traditionen involviert sind, und bei der sich der Übersetzer zwischen zwei Strategien entscheiden muss: Entweder werden die Normen der Ausgangskultur angewandt, was zu „translationʼs adequacy as compared to the source text“3 führt, oder die dominierenden Normen der Zielkultur sind entscheidend, was wiederum zu „its acceptability“4 beiträgt. Die totale Adäquatheit des übersetzten Textes in Bezug auf den Ausgangstext am einen, die totale Akzeptanz in der Aufnahmekultur am anderen Extrempol platzierend, lokalisiert Toury Übersetzung stets in der Mitte: Keine Übersetzung kann gänzlich akzeptabel oder adäquat sein, der übersetzte Text „can never meet the ideal standards of the two abstract poles“.5 Um den Prozess der Übersetzung zu verstehen, muss der übersetzte Text innerhalb seines kulturell-linguistischen Kontextes begriffen und analysiert werden. In seinem Artikel „The Nature and Role of Norms in Literary Translation“6 stellt er eine Reihe von Normen (preliminary, initial, operational, matricial und textual norms) auf, die den Prozess der Übersetzung von der Wahl des konkreten Textes über die individuelle Entscheidung des Übersetzers bezüglich der Übersetzungsstrategie bis hin zu den einzelnen linguistischen und stilistischen Präferenzen determinieren.7 Toury plädiert dafür, nicht einzelne Texte zu analysieren, sondern „rather multiple translations of the same original text as they occur in one receiving culture at different times in history“.8
2.3.4. Kritik, Applizierbarkeit und Fazit