Im Folgenden werden die für diese Arbeit relevanten chansons de gestechansons de geste, welche in ihrem jeweiligen Literatursystem einen zentralen, kanonisierten Status hatten, mit den von Aleida Assmann vorgeschlagenen distinktiven Merkmalen als kulturelle Texte verortet. Als massive Reduktion erscheint bei diesem Vorhaben das postulierte Aufgeben der, den literarischen Texten inhärenten, Polyvalenz hier behandelter chansons de geste.8 Doch wie Aleida Assmann betont, handelt es sich hierbei nicht um unterschiedliche Textgruppen, sondern um unterschiedliche Zugangsweisen und Rezeptionsrahmen, welche die womöglich identischen Texte als literarisch oder kulturell determinieren.
Unter dem Stichpunkt ‚Identitätsbezug‘ richten sich kulturelle Texte nicht an individuelle Rezipienten, sondern an Repräsentanten eines Kollektivs, das durch die Teilhabe an kulturellen Texten eine übersubjektive Identität erhält. Die Chanson de RolandRoland, schon früh zu einer identitätsstiftenden Narration der Franken, später zum Nationalepos der Franzosen stilisiert,Roland9 schafft durch die narrativen Verfahren mythischen Erzählens mit hagiographischen Bezügen ein konkretes Identifikationsangebot auf der Grundlage einer allumfassenden Liebe zu dulce France, dem lieblichen Frankenreich. Der historische Kern um die Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles im Jahre 778 wird narrativ mit der Akzentuierung auf dem religiösen Aspekt des Kampfes gegen die Sarazenen sowie einer Idealisierung der Helden der dulce France überhöht.
Auch das Rezeptionsverhalten kultureller Texte unterscheidet sich von dem der literarischen: Im Gegensatz zur unverbindlichen Wahrheit und zur ästhetischen Distanz literarischer Texte verkörpern chansons de gestechansons de geste eine verbindliche, unhintergehbare und zeitlose Wahrheit. Wie bereits erwähnt, erfordern sie Verehrung, Ergriffenheit und eine vorbehaltlose Identifikation; die Wiederherstellung der kosmischen, heilsgeschichtlich orientierten Ordnung wird erst durch den epischen Tod Rolands, Karls allumfassende Trauer um diesen und seine Gefährten und seine fürchterliche Rache an den Heiden erreicht. Führt man sich die von der Forschung für die chansons de geste etablierte Position bezüglich der Vortragssituation vor Augen, nämlich eine kollektive Rezeptionsweise mit dem jongleur (Spielmann) und dem Publikum, forderten die rezeptionsästhetischen Qualitäten dieser ältesten chanson de geste zweifellos Verehrung und Ergriffenheit bei den zeitgenössischen Rezipienten. Auch der Aspekt der Überzeitlichkeit mit dem damit verbundenen Anspruch auf „unerschöpfliche, nie veraltende Aktualität“10 sowie die „transhistorische Qualität der Unüberholbarkeit“11 spielen eine entscheidende Rolle bei der Kanonisierung von Texten, die auf diese Weise erst kulturell werden. Hier sind der heilsgeschichtliche Bezug der chansons de geste, die Verteidigung der christlichen Kirche gegen die Heiden sowie die in den Texten propagierte Überlegenheit Karls als gotterwählter Universalherrscher zu nennen.
Als Ausgangspunkt dieser Untersuchung werden nun unter Rückgriff auf die oben genannten distinktiven Merkmale die hier behandelten chansons de gestechansons de geste nicht als literarische, sondern als kulturelle Texte behandelt, wohl darauf verweisend, dass es sich nicht um die intrinsische Qualitätsgarantie von Texten per se handelt, sondern um den Rezeptionsrahmen, in dem sie sich entfalten. Mit diesem Postulat wird die Frage nach dem Transfer kultureller Texte eröffnet, somit auch die Frage nach dem differierenden Rezeptionsrahmen der zu analysierenden Texte in einem räumlich-geographisch und soziokulturell divergenten Kulturareal. Welche der distinktiven Merkmale verschwinden nach dem Transfer, welche Funktionen übernehmen diese Texte und welcher Status kommt ihnen zu? Sicherlich ist davon auszugehen, dass durch changierende Rezeptionsmodi sowohl ein übersubjektiver Identitätsbezug als auch eine verbindliche Wahrheits- und Geschichtsauffassung an Bedeutung verlieren.
2.5. Zusammenfassung der Vorgehensweise
Wie schon aus der erfolgten Darstellung verschiedener theoretischer Zugänge deutlich wurde, wird in dieser Arbeit auf den Einsatz einer großen Theorie verzichtet. Im Umgang mit den übersetzten Texten des europäischen Mittelalters, den geistigen Erzeugnissen ihrer jeweils spezifischen literarischen, soziokulturellen und politischen Dimension, erweist sich ein Theorienpluralismus als gewinnbringend, um den Fragen nach den einzelnen Aspekten des Transfers, der Ent-Kontextualisierung und schließlich der Domestizierung tradierter Konzepte, Ideen, Werte und Weltbilder nachzugehen. Die vorgestellten Konzepte der New PhilologyNew Philology, des Kulturtransfers, der Translation Studies und der PolysystemtheoriePolysystemtheorie sowie des kulturellen Gedächtnisses stellen keine abgeschlossenen, ubiquitär applizierbaren Theorien dar. Kritisch reflektiert, auf die Spezifika der jeweils zu untersuchenden Zeiträume und Kontexte hin modifiziert, bieten sie einen neuen, produktiven Zugang zu den Textzeugnissen, die uns – abseits der kryptischen philologischen Textkritik – Auskunft über die Bedingungen und Modi ihres Transfers und ihrer Rezeption geben können, wie über mögliche Auswirkungen des Transfers und ihre Rolle bei der Gestaltung neuer literarischer Formen.
Die für die vorliegende Studie relevanten Konzepte bzw. deren Anwendung sind stark rezeptionistisch angelegt. Der philologische Ansatz der New PhilologyNew Philology korreliert mit der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung des Kulturtransfers sowie der PolysystemtheoriePolysystemtheorie. Gemeinsam ist den theoretischen Konzepten der Fokus auf die erhaltenen Texte als Produkte von komplexen dynamischen Prozessen. Die Abkehr von der Idee eines Archetyps, eines Originals oder einer Ausgangskultur, deren Reproduktionen in einem anderen Kulturraum aufgrund der vielfachen Modifikationen als defizitär beschrieben würden, vereint die theoretischen Annäherungen an die altostnordischen Texte. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Akkumulation verschiedenster Ansätze. Während die New Philology eine Dezentrierung des Textbegriffs fordert und die Unfestigkeit mittelalterlicher Texte betont, fokussiert sich die Polysystemtheorie dezidiert auf die Übersetzungen und deren Funktionen im neuen literarischen System. Den großen Bogen vom Frankreich des 11. Jahrhunderts bis nach Schweden und Dänemark im späten Mittelalters bildet das methodologisch offene Konzept des Kulturtransfers. Dieser ergänzt die eben genannten Theorien hinsichtlich der Identifizierung diskursiver Vorgänge in der Aufnahmekultur, welche den Transfer, d.h. die Übertragungen von altfranzösischen Heldengedichten begünstigt haben. Das ursprünglich auf die Dekonstruktion der Idee eines Nationalstaates hin entwickelte Konzept wird mit einigen grundsätzlichen Modifikationen auf den Transfer von chansons de geste übertragen. Diese Geschichten, deren Ursprünge im Verborgenen liegen, wurden zunächst mündlich überliefert, so die Epenentstehungstheorie, bevor sie seit dem 11. Jahrhundert schriftlich fixiert wurden,1 und sind größtenteils in französischen und anglonormannischen SammelhandschriftenSammelhandschrift des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert – sie sind also bereits Bearbeitungen der verlorenen Originaltexte. Die für diese Untersuchung primär interessante, da in altnorwegischen, altschwedischen und altdänischen Bearbeitungen erhaltene Chanson de RolandRoland ist in ihrer ältesten und berühmtesten Form in der um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen sog. Oxforder Handschrift2 überliefert, die auf den Text vom Ende des 11. Jahrhunderts zurückgeht. Ähnlich ist die Situation der altostnordischen Überlieferung dieses und einer Reihe weiterer Texte: Sie sind allesamt in Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts enthalten. Hier greift der Ansatz der New PhilologyNew Philology mit der radikalen Abkehr von einer Fokussierung auf das verlorene Original, das es wiederherzustellen gilt. Mit der erklärten prinzipiellen Unfestigkeit, der mouvance mittelalterlicher Texte sind alle Textzeugen gleichberechtigt und stellen unterschiedliche Lesarten dar. In Übereinstimmung mit der Forderung Glausers nach der Revision des Textbegriffs werden die übersetzten Texte als „Intertexte in einem literarischen Feld“3 verstanden – dies gilt auch für die altfranzösischen chansons de gestechansons de geste, die als Vorlagen für die ostnordischen Bearbeitungen fungieren. Gemäß dem kanonisierten Status der chansons de geste für das kollektive Gedächtnis Frankreichs, allen voran der Chanson de Roland, werden diese Texte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nach den von Aleida