Die oben genannten Konzepte und Theorien sollen hinsichtlich der Besonderheiten der mittelalterlichen Handschriften- und Textgenese kritisch geprüft werden. In den Textstudien der beiden vorliegenden Texte, der altdänischen Karl Magnus Krønike sowie des altschwedischen Karl Magnus, wird den Fragen nach den Übersetzungstendenzen und somit auch nach dem Übersetzungsinteresse der skandinavischen Übersetzer/ Bearbeiter, den narrativen Identitätskonstruktionen Karls des Großen, dem Verhältnis zwischen Christentum und Islam sowie der besonderen Rolle von HolgerHolger Danske Danske nachgegangen.
Diese kulturwissenschaftlich ausgerichtete Herangehensweise soll zur Klärung der Frage nach den Formen des Transfers französischer Heldenepik in den ostnordischen Kulturraum des 15. Jahrhunderts beitragen.
1.1. Textkorpus
Geste de France, devenue geste européenne.Karlamagnús saga ok kappa hans1
Im Gegensatz zu der weitaus reicher überlieferten altwestnordischen, d.h. altnorwegischen und altisländischen Literatur mit ihren drei Hauptgattungen Skaldik, Edda-Dichtung und Saga gehören die altostnordischen Literaturen zu einem eher marginalisierten Bereich der skandinavistischen Literaturwissenschaft. Es sind jedoch nicht nur die territorialen oder sprachlichen Aspekte, die eine Marginalisierung der altostnordischen Texte bewirken, gattungsspezifische Momente tragen gleichermaßen dazu bei: Die als weniger indigen angesehene Übersetzungsliteratur mit ihrer Vielfalt an kontinentalen Stoffen, Figuren und narrativen Formen trat erst in jüngster Vergangenheit in den Fokus der Forschung.2 Dass eine der zentralen Figuren des europäischen Mittelalters, der fränkische Kaiser Karl der Große, auf literarischem Wege auch skandinavische Gebiete betreten konnte, ist auf die folgenden übersetzten Texte, die altnorwegische Karlamagnús saga ok kappa hansKarlamagnús saga ok kappa hans, die altdänische Chronik Karl Magnus Krønike sowie den altschwedischen Karl Magnus zurückzuführen.
Die Textauswahl für diese Untersuchung ist dabei durch mehrere Kriterien begründet: Zum einen sollten die zu untersuchenden Texte als Rezeptionszeugnisse der chansons de gestechansons de geste direkte oder indirekte Bearbeitungen der Stoffe und Motive der altfranzösischen Heldendichtung darstellen. Weiterhin sollen sie in den beiden altostnordischen Sprachen, dem Altschwedischen und dem Altdänischen, vertreten sein. Auf diese Weise lässt sich ermitteln, inwiefern man von gemeinsamen ostnordischen Übersetzungsinteressen und -idealen ausgehen kann. Ein weiteres Kriterium ist die Integration der Texte in SammelhandschriftenSammelhandschrift: Durch eine Annäherung an die historischen, politischen und sozialen Kontexte, in deren zeitlichen Rahmen die Entstehung der Handschriften zu datiert ist, lassen sich mögliche Intentionen der Kompilatoren und Übersetzer erkennen.
Diese Kriterien treffen auf die einzigen Zeugnisse der Karlsdichtung im altostnordischen Raum zu: Der altschwedische Text Karl Magnus sowie die altdänische Adaption Karl Magnus Krønike sind beide in den SammelhandschriftenSammelhandschrift des 15. Jahrhunderts enthalten. Diese repräsentieren ein breites Spektrum an heterogenen Inhalten in teilweise unterschiedlichen Sprachen und ermöglichen so die Verortung der Karlsdichtung in einem breiteren intertextuellen Umfeld der jeweiligen Handschrift. Darüber hinaus können die Texte in Beziehung zu anderen Genres gesetzt werden, was für ein holistisches Verständnis der synchronen wie der diachronen Überlieferung der Karlsepik im östlichen Skandinavien hilfreich ist. Die Ausgangslage bilden fünf Sammelhandschriften, dabei liegt der altschwedische Text Karl Magnus in vier Sammelhandschriften vor:
Cod. Holm. D4,Cod. Holm. D4 erste Hälfte des 15. Jahrhunderts
Cod. D4a (Fru Märtas Bok), 1449–1463
Cod. Holm. D3Cod. Holm. D3 (Fru Elins Bok), 1448
AM 191 fol.AM 191 fol. (Codex Askabyensis), das Jahr 1492 kommt als terminus ante quem in Frage.3
Der dänische Text der sog. Karl Magnus Krønike ist in der SammelhandschriftSammelhandschrift Cod. Holm. Vu 82Cod. Holm. Vu 82 enthalten, auch BørglumBørglum-Handschrift genannt, nach dem Entstehungsort Kloster Børglum in Dänemark. Der ältere Teil der Handschrift, welcher die Krønike enthält, wird auf 1480 datiert.
Als Vorlage der ostnordischen Texte gilt die aus dem benachbarten altwestnordischen Literaturumfeld stammende Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans og kappa hans, der eine Reihe französischer heldenepischer Gedichte zu Grunde liegt. Obgleich ein umfassender Vergleich der Karlamagnús saga mit den ostnordischen Versionen im Rahmen dieser Arbeit nicht intendiert ist, so wird sie doch als Referenz punktuell herangezogen, wann immer es für die Fragestellung konstruktiv ist.
Die Studie konzentriert sich vor allem auf zwei chansons de gestechansons de geste: Chanson de RolandRoland sowie Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople, in der romanistischen Forschung auch als Pèlerinage de Charlemagne bekannt, sind in allen drei skandinavischen Adaptionen überliefert. Weitere chansons, u.a. Chanson d’Aspremont sowie Chevalerie Ogier le Danemarche sind vor allem hinsichtlich der dänischen Überlieferung relevant und werden im Kapitel 6 und 7 herangezogen. Aufgrund der umfangreichen, zum Teil nicht mehr rekonstruierbaren Handschriftenlage altfranzösischer und anglonormannischer Vorlagen der ostnordischen Texte, wird im Rahmen dieser Arbeit auf bereits erarbeitete Ergebnisse der romanistischen chansons de geste-Forschung zurückgegriffen, welche sich als relevant und konstruktiv für die Analyse skandinavischer, speziell ostskandinavischer Rezeption altfranzösischer Heldenepik erweisen.
Für die Verortung der übersetzten chansons de gestechansons de geste im ostnordischen Literatursystem werden die im gleichen Entstehungszusammenhang zu betrachtenden Texte berücksichtigt: Für das schwedische höfische Literaturmilieu werden vor allem die im Knittelvers verfassten Übertragungen kontinentaleuropäischer höfischer Dichtung, die sog. EufemiavisorEufemiavisor, als Pioniere einer literarischen Übersetzungsaktivität herangezogen. Dieses auf den ersten Blick überschaubare Quellenkorpus soll verdeutlichen, wie aus der „geste de France“ – laut Paul Aebischer – „geste européenne“Karlamagnús saga ok kappa hans4 wurde. Sowohl in sprachlicher als auch in territorialer und literaturgeschichtlicher Hinsicht handelt es sich bei den ausgewählten Texten um ‚Grenzgänger‘.
1.2. Begriffe: chansons de geste, riddarasögur
chansons de gesteriddarasögurDie oben genannten Texte lassen sich in ihrer Überlieferungsgeschichte nicht nur verschiedenen historischen und sozialen Kontexten zuordnen, sondern vertreten unterschiedliche Genres, die an dieser Stelle einer näheren Erläuterung bedürfen. Neben zentralen Charakteristika wird im Folgenden in erster Linie auf die von der Forschung als relevant angesehenen Funktionen der jeweiligen Gattung eingegangen.
1.2.1. Chansons de geste
Die weiter oben aufgelisteten altfranzösischen Vorlagen der ostnordischen Bearbeitungen Chanson de RolandRoland, Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople, Chanson d’Aspremont und Chevalerie Ogier le Danemarche gehören zur Gattung der französischen Heldenepik, den sog. chansons de gestechansons de geste. Die frühen chansons, vor allem das Rolandslied, stellen in der älteren Forschungsgeschichte laut Bernd Bastert die Höhepunkte der Gattung dar, während die neueren Texte als „depravierte, nicht mehr authentische Heroik“1 angesehen werden. Chansons de geste berichten von Heldentaten großer Persönlichkeiten, die Karolingerzeit mit der Figur Karls des Großen ist hierbei besonders zentral. Klassischerweise wurden die Gesten in drei Zyklen eingeteilt, den Cycle du Roi, den Cycle de Doon de Mayence und den Cycle de Monglane, deren strukturierendes Merkmal die Genealogie ist.2 Im Laufe der Forschungsgeschichte wurde diese Einteilung zugunsten einer thematischen Differenzierung