Wer „Kommunikation“2 sagt, meint zumeist Mündlichkeit und damit Hörverstehen. Es handelt sich dabei um eine besondere Kompetenz und das aus mehreren Gründen: 1. Sprache als „Spreche“ ist ohne Hören nur schwer erwerbbar. 2. Eine operable Sprechfähigkeit ist ohne Hörverstehen nur schwer ausbildbar. 3. Erst das Hörverstehen verleiht Lautketten ihre semantische Dimension und macht verbal mitgeteilte Inhalte behaltbar. (…) Im (mündlichen) Gespräch tritt Hörverstehen im Wechsel mit dem Sprechen auf; man bezeichnet es in diesem Sinne auch als Teil einer integrativen Kompetenz. Schon dies zeigt: Kommunikation ist ohne Hörkompetenz nur eingeschränkt möglich; weshalb auch das Fremdsprachenlernen auf das Hörverstehen keineswegs verzichten kann, solange es auf Kommunikationsfähigkeit abhebt (Meißner 2011: 72).
In den Bildungssstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) wird die Zusammengehörigkeit der beiden Kompetenzen Sprechen und Hörverstehen nicht hinreichend deutlich. Zwar wird beiden eine wichtige Rolle beigemessen, allerdings betrachtet man sie in einem anderen Maße voneinander isoliert als es zum Beispiel der GeR vermag. Im Bereich des Hörverstehens sollen Lernende am Ende der gymnasialen Oberstufe folgende Fähigkeiten besitzen:
Die Schülerinnen und Schüler können authentische Hör- und Hörsehtexte verstehen, sofern repräsentative Varietäten der Zielsprache gesprochen werden. Sie können dabei Hauptaussagen und Einzelinformationen entnehmen und diese Informationen in thematische Zusammenhänge einordnen. (KMK 2012: 15)
In dieser, wie auch in den näheren Beschreibungen der zu erreichenden Teilkompetenzen, beschränken sich die Bildungsstandards auf die Hörverstehenskompetenz als solche – es fehlt ein Abschnitt, der diese mit der produktiven Komponente vernetzt. Dies ist besonders prekär, weil das Hörverstehen/Hörsehverstehen in der Sekundarstufe II bisher „stiefmütterlich behandelt“ (Rossa/Meißner 2017: 84) wird und die Fähigkeit für das Bewältigen kommunikativer Situationen unabdingbar ist.
Ebenfalls von maßgeblicher Bedeutung für die Ausbildung von Sprechkompetenz ist das Verfügen über sprachliche Mittel. Sprachliche Mittel, zu denen Wortschatz, Grammatik, Aussprache, Prosodie und Orthografie zu zählen sind, gelten in den Standards, analog zur Sekundarstufe I, als funktionale Bestandteile des sprachlichen Systems und der Kommunikation (vgl. KMK 2012: 18). Hervorzuheben ist, dass diese Mittel eine „dienende Funktion“ (ibid.) insofern haben, als sie zur Realisierung der kommunikativen Absicht unverzichtbar sind. Ziel kompetenzorientierten Unterrichts ist es daher nicht, diese ins Zentrum zu rücken, sondern sie in möglichst vielfältigen Anwendungssituationen zu schulen, so dass sie von den Lernenden kumulativ angeeignet werden. Dies geschieht in Analogie zum (Erst-)Spracherwerb.
Die im Strukturmodell zentral und oben verortete interkulturelle kommunikative Kompetenz wird in den Oberstufenstandards, einerseits durch ihre Position und andererseits durch eine systematischere und differenziertere Ausgestaltung in Deskriptoren, aufgewertet und zudem wird ihre Verankerung mit den funktional kommunikativen Kompetenzen transparenter (vgl. Caspari/Burwitz-Melzer 2017a: 38). Sie ist gerichtet „auf Verstehen und Handeln in Kontexten, in denen die Fremdsprache verwendet wird.“ (KMK 2012: 19) und meint konkreter die Fähigkeit der Lernenden zur Erschließung der in fremdsprachlichen und fremdkulturellen Texten enthaltenen Informationen, Sinnangeboten und Handlungsaufforderungen sowie der Reflexion dieser vor dem Hintergrund ihres eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexts3 (ibid.). Die angedeutete Verankerung mit den funktional kommunikativen Kompetenzen zeigt sich darin, dass Lernende zur Erschließung auf rezeptive Kompetenzen angewiesen sind und zur Problemlösung auf produktive Kompetenzen zurückgreifen müssen. Interkulturelle kommunikative Kompetenz setzt aber auch emotionale Bereitschaft (Einstellungen) voraus, sich auf das Fremde einzulassen und diesem offen und respektvoll, wenn angebracht aber auch kritisch, entgegenzutreten. In diesem Zusammenhang sind auch die Text- und Medienkompetenzen zu erwähnen, da fremdkulturelle Texte „Repräsentationen von Diskursen in fremdsprachigen Kulturen“ (Hallet 2010: 128) darstellen und somit als Türöffner für interkulturelles Lernen und die Ausbildung von interkultureller kommunikativer Kompetenz dienen können. Dies resümieren auch Caspari und Burwitz-Melzer und plädieren für ein vernetzendes Lernen, wenn es darum geht, die Bildungsstandards in die Praxis umzusetzen:
Schülerinnen und Schülern bietet ein solches vernetzendes Lernen die Möglichkeit, ihre interkulturellen und kulturellen Wissensbestände und ihre Emotionen in den Fremdsprachenunterricht in angemessener Weise einzubringen. Lehrerinnen und Lehrer sollten lernen, sich solche Wissensbestände und Emotionen zu erschließen bzw. zu evozieren und in angemessener Form in den Unterricht einzubeziehen. (Caspari/Burwitz-Melzer 2017b: 59)
Als kurzes Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (KMK 2012) den Oberstufenunterricht mit Blick auf die Förderung des Sprechens und die allgemeine Bedeutung von Mündlichkeit verändern können. Stärker als zuvor werden mündliche Kompetenzen gefordert und auch wenn die Standards, insbesondere bezogen auf die Transparenz einiger Deskriptoren und die nicht im gleichen Maße wie im GeR bedachte Integration produktiver und rezeptiver Fertigkeiten, nicht immer einfach umzusetzen sind, so können sie als Referenzdokumente die Unterrichtsqualität langfristig maßgeblich verbessern. Dazu bedarf es allerdings empirischer Forschung zur Gestaltung standardorientierten Fremdsprachenunterrichts, um diesen beschreiben und reflektieren zu können und auf lange Sicht auch auf die Lehrerbildung rückwirken zu können. Einen Beitrag in diesem Zusammenhang will die vorliegende Studie leisten. Im nächsten Unterkapitel soll es aber zunächst darum gehen, die Rolle des Sprechens im Englischunterricht an gymnasialen Oberstufen noch genauer nachzuvollziehen. Dazu werden die Kerncurricula Englisch für die Oberstufe genauer betrachtet.
2.4 Ausgestaltung der Vorgaben in den Bundesländern: Kerncurricula Englisch für die Oberstufe in Hessen und Niedersachsen
Das Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe Englisch des Landes Hessen liegt seit 2016 in der aktuellen Fassung vor und
nimmt zum einen die Vorgaben der Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) und den Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 18.10.2012 zu den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (…) auf. Zum anderen setzt sich in Anlage und Aufbau des Kerncurriculums die Kompetenzorientierung, wie bereits im Kerncurriculum für die Sekundarstufe I umgesetzt, konsequent fort – modifiziert in Darstellungsformat und Präzisionsgrad der verbindlichen inhaltlichen Vorgaben gemäß den Anforderungen der gymnasialen Oberstufe und mit Blick auf die Abiturprüfung. (HKM 2016: 6)
Es versteht sich somit als eine auf den hessischen Oberstufenunterricht angepasste Weiterentwicklung der bestehenden KMK-Standards und kennzeichnet sich insbesondere dadurch, dass es auch Themen- und Inhaltsfelder aufnimmt. In den vorangestellten Ausführungen zum Bildungsbeitrag des Faches Englisch postuliert es die Begegnung mit verschiedenen Kulturen der anglophonen Welt als zentral und versucht diese – im Sinne eines erweiterten Textbegriffs – über schriftliche, mündliche oder medial vermittelte authentische Kulturprodukte herzustellen (HKM 2016: 11). Dabei stehen Lebensweltbezug und gesellschaftliche Relevanz im Vordergrund und diese sollen „vielfältige Sprechanlässe unter geeigneten Themenstellungen“ (ibid.) eröffnen. Der Charakter des Englischen als lingua franca, die über die Grenzen englischsprachiger Länder hinaus Politik, Wirtschaft und Kulturen geprägt hat, macht das Beherrschen der Sprache zu einer kulturellen Praktik von hohem Bildungswert. Entsprechend stellt auch das Kerncurriculum heraus, dass kompetenzorientierter Englischunterricht Lernende auf die „Teilnahme an der internationalen Sprachgemeinschaft“ (ibid.) vorbereiten soll und von kommunikativer Natur ist.
Die Orientierung des Kerncurriculums an den obligatorischen KMK-Dokumenten zeigt sich strukturell in der wörtlichen Übernahme der Kompetenzbereiche und Einzelstandards und deren Zuordnungen zu grundlegenden und erhöhten Niveaustufen für Grund- und Leistungskurse. Dass es sich bei dem Kerncurriculum aber in Teilen in der Tat um eine Weiterentwicklung handelt, spiegelt sich in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Referenzdokumenten. So stellen die Autoren des Kerncurriculums ebenfalls fest, dass die Bildungsstandards