Die Studie folgt außerdem dem von Flick beschriebenen „Prinzip der Offenheit“ (Flick 2011: 124). Dieses besagt in seinen Grundzügen, dass die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstands zurückgestellt werden solle, bis sich diese aus den Daten heraus entwickeln ließe3 (ibid.). Eng damit verknüpft ist die Entscheidung auf den Verzicht von ex ante Hypothesen (vgl Meinefeld 2008: 266). Hiermit umgeht der Forscher die Gefahr, auf Basis etwaiger theoretischer Vorannahmen seine Aufmerksamkeit auf konkrete Punkte zu lenken und dabei eventuell blind zu bleiben für die Entdeckung der tatsächlich neuen Strukturen, die sich in der Auseinandersetzung mit den Daten möglicherweise offenbaren.
Der in der Studie verfolgte Ansatz ist angelehnt an einen „Prototyp qualitativer Forschung“ (Schramm 2016: 51), die sogenannte Ethnographie. Es werden Daten mittels teilnehmender Beobachtung in einem möglichst unbeeinflussten Kontext (hier Englischunterricht) erhoben und diese werden mittels interpretativer Verfahren und unter Einnahme einer emischen Perspektive derart ausgewertet, dass eine möglichst dichte Beschreibung (vgl. Dörnyei 2007: 130) resultiert, die auch die Innenperspektive der an der Forschung Beteiligten herausarbeitet (vgl. Schramm 2016: 51). Die Beschreibung und Analyse geschieht entlang von Fallstudien. Eine detaillierte Darstellung des Erhebungs- und Auswertungsverfahrens erfolgt im weiteren Verlauf dieses Kapitels.
3.2 Fachdidaktisches Erkenntnisinteresse
Das fachdidaktische Erkenntnisinteresse der Studie ist durchaus komplexer Natur und zielt auf die Beschreibung unterrichtlicher Praxis ab. Sie konzentriert sich auf Sprechaufgaben und wendet sich dabei der Frage zu, welche Aufgabenstellungen im kompetenzorientierten Englischunterricht der gymnasialen Oberstufe zum Einsatz kommen und, konkret, wie diese von den Schülerinnen und Schülern gelöst werden. Dabei geht es darum, authentische Einblicke in das Unterrichtsgeschehen zu geben und verschiedene Aufgabenformate und Sozialformen zu untersuchen. Hauptsächlich sollen die verschiedenen Phasen einer Sprechaufgabe (z.B. Aufgabenerteilung, Aufgabenbearbeitung, Vorstellen der Ergebnisse, Feedback) zunächst betrachtet und beschrieben werden, um auf dieser Basis Schlüsse daraus ziehen zu können, welche Faktoren die Auseinandersetzung mit einer Sprechaufgabe bedingen und wie sich dies auswirkt. Die Studie begegnet somit dem offenkundigen Mangel an Empirie im Forschungsfeld Mündlichkeit, welcher vielfältig beklagt wird (vgl. Ahrens 2014, Burwitz-Melzer 2014, Hufeisen 2014, Kurtz 2014) indem sie Daten generiert, mithilfe derer es möglich ist, die Komplexität des Sprechens exemplarisch abzubilden.
Wie Burwitz-Melzer hervorhebt, können auf diese Weise vor allem Erkenntnisse darüber erlangt werden, wie Schülerinnen und Schüler eine Sprechabsicht in der Zielsprache realisieren, miteinander interagieren sowie Bedeutung aushandeln und entsprechende Rückmeldungen auf sprachliche Äußerungen in der Zielsprache entweder selbst erteilen oder durch Mitschülerinnen und Mitschüler oder die Lehrkraft erhalten (vgl. Burwitz-Melzer 2014: 25). Insbesondere der zuvor bereits ausgeführte Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik von einer Inhalts- zur Kompetenzorientierung führt die Notwendigkeit der vorliegenden Studie vor Augen. Die in den Bildungsstandards formulierten Deskriptoren zu monologischem und dialogischem Sprechen und der immens gestiegene Stellenwert mündlicher Kompetenzen durch die Einführung einer obligatorischen Kommunikationsprüfung in der gymnasialen Oberstufe, wie auch die Möglichkeit einer mündlichen Komponente in der Abiturprüfung, lassen eine Neuorientierung in der Gestaltung des Englischunterrichts erwarten. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass eine solche Aufwertung mündlicher Kompetenzen im Sinne eines Washback-Effekts auf den Unterricht dergestalt zurückwirkt, dass Aufgabenformate zum monologischen und dialogischen Sprechen häufiger als zuvor verwendet werden und durch die nun vorhandenen Deskriptoren und Standards auch bewusster gestaltet werden können.
Empirische Grundlagenforschung ist in diesem Zusammenhang unabdingbar, möchte man Erkenntnisse über den Ist-Zustand der schulischen Arbeit mit Sprechaufgaben gewinnen, Hypothesen über lerndienliche sowie lernhinderliche Bedingungen ableiten und Impulse für die weitere Forschung, Lehrerprofessionalisierung und Aufgabenentwicklung liefern (vgl. Kapitel 1). Die zentralen Forschungsfragen der Studie sollen an dieser Stelle aufgelistet werden:
Wie wird im Englischunterricht der gymnasialen Oberstufe Sprechkompetenz gefördert?
Welche Sprechaufgaben stellen Lehrkräfte und wie gehen die Schülerinnen und Schüler damit um?
Wie werden die Sprechaufgaben gelöst und welche Schwierigkeiten treten dabei auf?
Auch wenn die im Rahmen der Studie erhobenen Unterrichtsdaten eine dichte Beschreibung des Geschehens gestatten, so sind einige für die Beantwortung der Forschungsfragen interessanten Aspekte zu den sogenannten „high inference behaviours“ (Nunan 1992: 60) zu zählen. Insbesondere wenn es um den Nachvollzug von Verstehensprozessen geht, ist eine Ergänzung des Datenmaterials nötig. Hierbei muss es sich um Daten handeln, die es ermöglichen, die mündlichen Äußerungen aus dem Unterricht aus weiteren Perspektiven zu durchleuchten. Daher wurde die Entscheidung getroffen, die Sprachdaten aus dem Unterricht sowohl durch retrospektive Interviews mit den Schülerinnen und Schülern wie auch mit den Lehrkräften zu ergänzen, sowie die Notizen der Lernenden aus den verschiedenen Phasen der Aufgabe ebenfalls zu untersuchen (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 132).
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