Um die Beziehung der menschlichen Person zu Gott, um die es in diesem Abschnitt geht, darzustellen, geht Rütsche ausführlich auf Hildebrands ethische Grundthese der „Wertantwort“ als Rückgrat des moralischen Lebens der Person ein. Deren Anwendung auf die Religionsphilosophie führt dazu, in erster Linie nicht von einem menschlichen Religionsbedürfnis zu sprechen, wie dies viele immanentistische Religionspsychologien und Religionsphilosophien tun, sondern den tiefsten religiösen Akt der Gottesliebe, der Anbetung und des Lobpreises Gottes als Antwort des Menschen auf Gott um seiner selbst willen zu sehen, weil Gott Liebe und Lobpreis gebühren.3 Nur in der Hingabe an das in sich Wertvolle und an Gott als dessen Inbegriff um seiner selbst willen kann es auch zum wahren Glück und der höchsten Selbstverwirklichung der menschlichen Person kommen.
In seiner Analyse des Wesens der Person stützt Rütsche sich im Sinne einer echten Aneignung der philosophischen Einsichten Hildebrands insbesondere auf dessen ethische Untersuchungen und seine sehr originellen und wesentlichen, wenn nicht revolutionären, Beiträge zum „Herzen“ als Sitz menschlicher Affektivität und als drittes, dem Intellekt und Willen nicht unterlegenes, geistiges Zentrum der Person.
Der vierte Abschnitt, „Die lebendige Verbindung des Menschen mit Gott“, erörtert ein weites Spektrum der Beiträge Hildebrands zur Religionsphilosophie und zur Erkenntnis des Wesens verschiedener religiöser Akte und Haltungen wie der Demut, der Reue, der Gottes- und Nächstenliebe, und insbesondere der Hildebrand’schen These, daß wir in der Caritas und anderen christlichen Tugenden eine zutiefst neue moralische Vollkommenheit finden, welche die Tugenden, die nicht auf die von der Christlichen Offenbarung offenbarte Schau Gottes und des Menschen antworten, überragen. Diese Haltungen und Tugenden werden zwar vom Glauben an die Mysterien der christlichen Religion motiviert, besitzen jedoch echte, philosophischer Einsicht zugängliche Wesenheiten, welche es auch einem Nichtchristen, wie Bergson, erlaubten, eine überlegene moralische Qualität und Sublimität der christlichen Mystiker und Heiligen anzuerkennen.4 Diese sich an einige Analysen Schelers anlehnenden, aber nach Umfang und Qualität weit über dieselben hinausgehenden Untersuchungen Hildebrands ermöglichen es dem Christen, eine innige Verbindung zwischen seiner Vernunft und seinem Glauben wahrzunehmen.
Ein Schlußteil faßt die wesentlichsten Ergebnisse der Arbeit zusammen.
Dem Autor gelingt eine sehr gute und umfassende Darstellung verschiedener Grundinhalte der Philosophie Hildebrands und deren Anwendung auf die Religionsphilosophie, sowohl auf die philosophische Gotteserkenntnis als auch auf die Erforschung der Beziehung des Menschen zu Gott. Das Werk Rütsches holt so weit aus, und behandelt so viele erkenntnistheoretische, ethische, anthropologische, ästhetische und andere Aspekte der Philosophie Hildebrands, daß man es geradezu als eine Summa Philosophiae Hildebrandianae bezeichnen darf.
Als besonderes Verdienst des Buches erweist sich der Nachweis der inneren notwendigen Zusammengehörigkeit der erkenntnistheoretischen, anthropologischen und ethischen Beiträge Hildebrands, die erst die Personhaftigkeit Gottes, und damit das Fundament der göttlichen Akte gegenüber dem Menschen (aus christlicher Sicht Inkarnation, Erlösung, Auferstehung, Gericht) und der Antwort des Menschen auf Gott aufklären können. Zugleich ist eine so weit ausholende Studie Rütsches notwendig, um Hildebrands transzendente Interpretation der religiösen Akte des Menschen als Antwort auf Gott um seiner selbst willen verständlich zu machen.
Das ganze Werk zeichnet sich insbesondere durch seinen echt philosophischen Gehalt aus und ist weit entfernt von einer bloßen Wiedergabe der Gedanken eines anderen Autors. Damit bricht die Arbeit die in modernen akademischen Kreisen herrschende Unsitte, die Philosophie weitgehend bloß historisch abzuhandeln oder sie als wenig mehr als eine Analyse der Sprache zu betreiben, ohne die Sachen selbst, um die es geht, zu erforschen.
Die außerordentlich gründliche und sachlich korrekte Darstellung der Religionsphilosophie Hildebrands und deren erkenntnistheoretischer, ethischer und anthropologischer Fundamente besticht insbesondere dadurch, daß sie, unter Berücksichtigung des gesamten umfangreichen und einschlägigen publizierten Werkes Hildebrands auf vier Gebieten der Philosophie, die ethischen Hintergründe von Hildebrands Religionsphilosophie einbezieht.
Die gründliche Berücksichtigung und sorgfältige Zitierung verschiedener Texte aus den 503 Mappen unveröffentlichter und (nicht leicht lesbarer) überwiegend handgeschriebener deutscher und englischer Schriften, die sich im Nachlaß Hildebrands befinden, erhöht den Wert des vorliegenden Werkes ebenso wie die gründliche Berücksichtigung einschlägiger Teile der Sekundärliteratur über Hildebrand.
So schließt Rütsche eine wesentliche Forschungslücke durch synthetische und systematische Darstellung eines Teiles der Philosophie Hildebrands, der hauptsächlich nur in Nachlaßschriften (insbesondere Vorlesungen über Religionsphilosophie) vorliegt und der hier zum ersten Mal zusammenhängend dargelegt wird.
Weitere Vorzüge des Werkes sind eine gelungene Verbindung historischer und systematischer Analysen im geschilderten symphilosophein mit Hildebrand selbst, sowie ihr in der angegebenen freundlich-kritischen Weise über Hildebrands Beiträge Hinausweisen.
Ihre gute Gliederung und ausgezeichnete, hilfreiche Zusammenfassungen jedes Abschnittes machen das Werk auch als Lehrbuch höchst geeignet.
Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Seifert
1 Die immanente WeltanschauungWeltanschauung und der SzientismusSzientismus
Was im Jahre 1620 mit Francis Bacons grosser Erneuerung der Wissenschaften (instauratio magna) und seiner Reduzierung des Wissens von einem Selbstzweck zu einem Mittel zum ZweckZweck begann und über die kontinuierliche Erschliessung zu einer immer besseren Beherrschung der Gesetzmässigkeiten der empirischen WirklichkeitWirklichkeit führte (victoria cursus artis super naturam1), das mündete wider Erwarten weder in die erhoffte Wiederherstellung der „Verbindung zwischen dem GeistGeist und den Dingen“2 noch in eine Vermenschlichung des Menschen und seiner Lebenswelt. Immer deutlicher hat sich im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte gezeigt, wie das anfänglich berechtigte Motiv, das menschliche Leben durch die Erlangung von WissenWissen auf dem Wege des Experiments und der InduktionInduktion zu verbessern, den Übeln abzuhelfen und den Weg zu bahnen für Erfahrungen in bisher unbekannten Gebieten,3 seine positive Gestalt verliert, wenn es auf Gegenstände angewandt wird, die nach einer anderen Erkenntnismethode verlangen. Werden die Methoden, die bei den NaturwissenschaftenNaturwissenschaften berechtigt und zielführend sind, auf die Geistes- und Sozialwissenschaften übertragen, so zeitigt dies weder positive noch neutrale, sondern nicht zu übersehende negative Folgen.
Unter dem BegriffBegriff der „WissenschaftWissenschaft“ werden gegenwärtig fast ausschliesslich die NaturwissenschaftenNaturwissenschaften verstanden, welche in einer ebensolchen Dominanz auch das heutige WeltbildWeltbild prägen. Da die Naturwissenschaften sich allerdings nur mit bestimmten Aspekten der WirklichkeitWirklichkeit befassen, vermögen sie kein befriedigendes Weltbild zu liefern. Ein solches wird erst im SzientismusSzientismus geboten, welcher für ein Weltbild steht, in dem die empirische Wirklichkeit als ganze Realität angesehen und insgesamt nur das als wirklich verstanden wird, was Gegenstand der Naturwissenschaften ist oder dazu gemacht werden kann. Welche Konsequenzen die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methoden auf die Geistes- und Sozialwissenschaften hat, zeigt sich z.B. bei Willard Van Orman QuineQuineWillard Van Orman (1908–2000), der der ErkenntnistheorieErkenntnistheorie – in einem Artikel mit dem vielsagenden Titel Naturalisierte Erkenntnistheorie – einen „Platz innerhalb der Psychologie und somit innerhalb der empirischen Wissenschaften“4 zugewiesen hat. Nur insofern, so wird im Rahmen einer immanenten Betrachtung der Wirklichkeit behauptet, trägt die philosophische Disziplin der Erkenntnistheorie überhaupt wissenschaftliche Züge, als jegliche BedeutungsgebungBedeutungsgebung für Wörter auf BeobachtungenBeobachtungen basiert und diese wiederum die SinnesrezeptorenSinnesrezeptoren als empirische Grundlage haben. Dass der Szientismus reduktionistisch und materialistischmaterialistisch ist,5 lässt sich auch an der Philosophie des GeistesPhilosophie des