Bei der empirischen Arbeit an Korpora ist es entscheidend, nach Gewichtungen und Gebrauchsregularitäten Ausschau zu halten, die sich zu Gruppen zusammenfassen und funktional bestimmen lassen. Auch wenn diese Gruppen verbaler Ausdrücke oder Strukturen zum Zeitpunkt einer solchen Untersuchung noch nicht durch die Grammatik einer Sprache beschrieben oder in ihren Regelbestand übernommen wurden, und sich folglich auch nicht als Teil des Sprachsystems der fraglichen Sprache bestimmen lassen, ist nicht auszuschließen, dass sie im Moment ihrer Erforschung bereits von funktionaler Bedeutung sind, und zu einem späteren Zeitpunkt eine solche Integration erforderlich wird.
An dieser Stelle gewinnt der Begriff ‚Norm‘, wie Coseriu ihn interpretiert, für die vorliegende Arbeit eine entscheidende Bedeutung. Coseriu versteht unter „Norm“ die sprachlichen Verwendungsweisen, die auf den „gewöhnlichen Gebrauch“ in einer Sprachgemeinschaft deuten. Es handelt sich bei diesem Normbegriff somit um eine vermittelnde Größe zwischen der „parole“ als dem individuell zufälligen Sprachgebrauch eines Individuums und der „langue“ als dem abstrakten Regelsystem der Sprache. (Coseriu 1974, 47sqq.). Diesem Verständnis zufolge entwickeln sich Normen als Folge eines häufigen Gebrauchs von bestimmten sprachlichen Ausdrucksweisen und Strukturen, auf die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft regelmäßig zurückgreifen, um wiederholt auftretende kommunikative Aufgaben zu lösen.
Ein Beispiel für eine ‚Norm‘ im Bereich syntaktischer Strukturen betrifft den Gebrauch von Relativsätzen im kontinentalen und brasilianischen Portugiesisch. Gemeint sind die sogenannten „orações relativas cortadoras“ und „orações relativas resumptivas“ (Arim et al. 2005, 67sqq.) in Äußerungen wie estou dentro da área que gostaria de estar oder Sô´tor uma outra questão que enfim me parece que um Presidente da República deverá ter alguma opinião sobre ela10, die sich mittlerweile zu ‚Gebrauchsregularitäten‘ oder ‚Normen‘ im oben erläuterten Sinn Coserius herausgebildet haben.
Diese Norm gewinnt im Hinblick auf möglich bevorstehende Prozesse des Sprachwandels11 an Bedeutung, wenn man sich im Zusammenhang mit den regelabweichenden Relativsätzen eine Reihe anderer sprachlicher Phänomene vor Augen führt, selbst wenn diese von Verfechtern einer konservativen Vorstellung der portugiesischen Grammatik und von Sprachpuristen als ‚nicht akzeptabel‘ oder als nur ‚eingeschränkt gültig‘ abgewertet werden. Bei diesen zusätzlichen Erscheinungen handelt es sich u.a. (a) um Ausdrücke wie há uns dias atrás12, bei denen durch die Präposition atrás nachträglich eine redundante Markierung des Geschehens als ‚vergangen‘ erfolgt, (b) um diskursive Sequenzen wie e essas ervas chinesas, como é que o paciente ocidental tem acesso a elas?, bei denen eine Trennung des vorangestellten Topik essas ervas chineses vom Rest der Äußerung vorliegt: eine Erscheinung, die in der Grammatik als tópico pendente bezeichnet wird, (c) um grammatisch nicht den Regeln entsprechende Formen wie voltei para ajudar ele statt der ‚korrekten‘ Bildung voltei para ajudá-lo, (d) um Sprechsequenzen wie mas realmente há peixe de muito boa qualidade, agora muitos restaurantes defendem-se, não é, com peixe congelado, in der agora als polyvalenter Konnektor dazu beiträgt, eine exakte Markierung der inhaltlichen und grammatischen Relationen zwischen den Sequenzen mas realmente há peixe de muito boa qualidade und muitos restaurantes defendem-se, não é, com peixe congelado zu vermeiden: Diese charakteristische Erscheinungsform des Nähesprechens wird im Schema oben auch als ‚Fehlende oder eingeschränkte semantisch-syntaktische Kohäsionsmarkierung zwischen den Teilen einer Äußerungssequenz‘ bezeichnet.
Die Gemeinsamkeit dieser vier erläuterten Ausdrücke und Strukturen ergibt sich unter dem Aspekt, dass sich in ihnen das universale Diskursverfahren ‚Bevorzugung einer aggregativen statt integrativen Strukturierung des Informationsflusses‘13 (innerhalb des Beschreibungsparameters ‚Zeit‘) manifestiert. Dieses Verfahren lässt sich u.a. durch folgende Kriterien charakterisieren: additive statt integrative Organisation der inhaltlichen Elemente einer Diskurssequenz; statt Planung der gesamten syntaktischen Struktur einer Äußerung von einer zentral ordnenden Perspektive aus, erfolgt eine stückchenweise Organisation von relativ kurzen und einfachen Syntagmen; Redundanz der Informationsübermittlung; Vermeidung expliziter Formen der Kohäsionsmarkierung zwischen benachbarten Teilsequenzen des Diskurses durch den Gebrauch entsprechend flexibler und mehrdeutiger Konnektoren etc.
Ohne die Einbeziehung einer übergeordneten Perspektive, die sprachliche Erscheinungen zusammenführt, die in Grammatiken der Schriftsprache in getrennten Kapiteln und unzusammenhängend thematisiert werden, träten – speziell auf das Portugiesische bezogen – die ‚regelwidrigen‘ Erscheinungen im Bereich der Bildung von Relativsätzen als isolierte Phänomene auf. Folglich könnte man ihnen nicht die Bedeutung und das Potential zugestehen, sich als auslösender Faktor für zukünftige Prozesse des Sprachwandels zu erweisen. Diese Bedeutung gewinnen die regelabweichenden Relativsätze nur im Zusammenhang und durch die Zusammenschau mit den anderen oben erläuterten Gebrauchsregularitäten von (a) bis (d), die in portugiesischen Grammatiken allerdings vernachlässigt werden.
Eine andere von Coseriu vertretene Haltung, die als grundlegende Einsicht auch die im vorliegenden Buch aufgestellten Thesen prägt, betrifft das von Coseriu postulierte ,Primat des Gesprochenen‘. Damit meint er die Priorität des Sprechens aus genealogischer und methodischer Sicht sowie die vorrangige Bedeutung mündlicher Verständigung für sprachliche Entwicklungsprozesse. ‚Sprechen‘ bedeutet folglich für Coseriu einen Prozess, der – so paradox es zunächst auch scheinen mag – mündliche und schriftliche Kommunikation gleichermaßen umfasst (Coseriu 2007, 58 [1975]):
Das Sprechen ist nicht von der Sprache her zu erklären, sondern umgekehrt die Sprache nur vom Sprechen. Das deswegen, weil Sprache konkret nur Sprechen, Tätigkeit ist und weil das Sprechen weiter als die Sprache reicht. Denn während die Sprache ganz im Sprechen steckt, geht das Sprechen nicht ganz in der Sprache auf. Daher muss unsere Meinung nach Saussures bekannte Forderung umgekehrt werden: statt auf den Boden der Sprache‚ muss man sich von Anfang an auf den des Sprechens stellen und dieses zu Norm aller anderen sprachlichen Dinge nehmen.
Dieses Zitat und die Argumente Coserius liefern zusammen mit dem oben dargestellten Modell des Nähe- und Distanzsprechens hinreichende Gründe dafür, in den folgenden Kapiteln die Begriffe ‚Nähesprechen‘ bzw. ‚Nähekommunikation‘ zu gebrauchen, auch wenn vereinzelt damit kommunikative Praktiken gemeint sind, die medial auf einer schriftlichen Basis beruhen.
Zur Bestimmung zusätzlicher, nonverbaler Anteile der Kommunikation, von denen im weiteren Verlauf des Buches immer wieder die Rede sein wird: Unter Merkmalen der ‚Prosodie‘ verstehe ich die Gesamtheit lautlicher Strukturen, zu denen ‚Betonung‘ (Wort- und Satzakzent), ‚Rhythmus‘ (intendierter, regelmäßig-systematischer Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben), ‚Intonation‘ (Verlauf, Richtung und Modulation der Sprechmelodie innerhalb einer Sprechsequenz), ‚Intensität und Lautstärke‘, ‚Sprechgeschwindigkeit‘ sowie ‚Pausen‘ gehören14. Diese Merkmale besitzen die Charakteristika ‚suprasegmentaler‘ Elemente, weil sie nicht mit einzelnen Segmenten der Lautkette (Laute, Silben, Worten, Phrasen) zusammenfallen, sondern erst im Zusammenhang umfassender, segmentübergreifender Sprechsequenzen beschrieben und verstanden werden