Sophokles lässt also den Chor an unserer Stelle eine in hohem Maße konventionelle Strophe singen, deren einzelne Motive allerdings passgenau in den dramatischen Kontext eingearbeitet und auf Grund der speziellen Situation geradezu pervertiert sind. Er kappt dabei das gewohnte Schema des Gebetshymnos und lässt die aktuelle Bitte ersatzlos wegfallen, da ganz allein die imaginierte und fiktive Szene der Vergangenheit im Fokus steht. Mit Blick auf diese Engführung der standardisierten Form liegt nur der Rumpf eines eigentlichen Gebetes vor. Die ins Zentrum gerückte Erinnerung an eine bereits erfolgte Invokation der Gottheit nimmt dabei die im vorangegangenen Monolog beschrittene Methode der Situationsausdeutung wieder auf: Indem der Chor sich die (fiktive) Szene vergegenwärtigt und sich in dieser verortet, setzt er Neoptolemosʼ Herangehensweise fort; die lebhafte Wiedergabe der wörtlichen Reden aus den Versen 364ff. wird so an unserer Stelle durch den emotionalen Einwurf des Chors gespiegelt.
Mit Blick auf die Rolle des Chors lässt sich dabei festhalten: Die Schiffsleute erweisen sich in der Anwendung des typisch chorischen Schemas23 der Vergegenwärtigung und Selbstverortung als treue Diener ihres Herrn; sie lassen ihm zudem gerade durch das Fehlen einer dezidiert aktuellen Bitte an die Gottheit alle Möglichkeiten, die Unterredung mit Philoktet im Folgenden nach seinen Maßstäben zu gestalten.
Die kommentierende Strophe des Chors lässt so Neoptolemosʼ Monolog mehr als nur nachklingen, sie orchestriert ihn im Sinne einer Coda und ist zum Fortgang der Handlung hin offen. Der bisher spannungsreichste Moment der Tragödie – die seit dem Prolog erwartete Konfrontation des Protagonisten mit der Intrige – hat damit eine besonders wirkungsvolle Ausgestaltung erfahren, deren formale Einzigartigkeit die Wichtigkeit des dramatischen Moments widerspiegelt. SCHMIDTs geradezu überschwängliches Lob der kurzen Partie mit Blick auf die Gestaltung als Lügenrede („Diese Chorstrophe ist ein wahres Meisterstück! Die Mittel sind so vorzüglich gewählt, der Ton so echt, daß von daher die Lüge nicht mehr greifbar wird“24) lässt sich aus der Perspektive dieser Untersuchung nur wiederholen: Die vorliegende Passage zeigt zum einen exemplarisch, wie präzise die einzelnen, formal durchaus unterschiedenen Teile der Tragödie motivisch und dramaturgisch ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind. Zum anderen demonstriert sie – wie der Überblick über das gesamte Epeisodion noch fundierter zeigen wird – die bewusste, ökonomische und wirkungsvolle Handhabung traditioneller chorischer Gattungen, Motive und Methoden durch den Dichter sowie deren Kombination und Umdeutung mit Blick auf ihre Funktionalisierung in der jeweiligen dramatischen Situation.
Eine volle Würdigung der chorischen Präsenz im vorliegenden Epeisodion lässt sich jedoch erst unter Einbeziehung der zweiten eingeschobenen Strophe (v. 507–518) erreichen. Die weitere Handlungsentwicklung soll rasch überblickt werden.
Philoktet zeigt sich von Neoptolemosʼ Erzählung und der chorischen Intervention beeindruckt: Er ist überzeugt, Leidensgenossen vor sich zu haben, die wie er Opfer der Atriden und des Odysseus geworden sind.25 Aus Philoktets Erstaunen, wie der große Aias (Αἴας ὁ μείζων v. 411) die Entehrung des Neoptolemos nur hinnehmen konnte, entwickelt sich ein Zwiegespräch, in dessen Verlauf Neoptolemos den Protagonisten über die Verfassung einiger bedeutender Griechen informiert. Entsetzt muss Philoktet dabei erfahren, dass gerade die von ihm hochgeschätzten Mitstreiter entweder bereits gestorben sind oder schwere Schicksalsschläge erleiden mussten.26 Dagegen ist, nach Neoptolemosʼ Auskunft, der verhasste Thersites noch am Leben, was Philoktet schließlich zu einer Klage über die Ungerechtigkeit göttlichen Wirkens hinreißt (v. 446–452). Neoptolemos bekundet daraufhin, Troia und die Atriden nun gänzlich hinter sich lassen zu wollen; seine Heimatinsel Skyros genüge ihm vollkommen (ἐξαρκοῦσα v. 459), da auch er die Überlegenheit der moralisch Schlechten über die Guten – wie sie im griechischen Heerlager herrsche – nicht ertragen könne.
Mit dem betonten νῦν δʼ setzt Neoptolemos in Vers 461 einen neuen dramatischen Impuls, der die Erfüllung seiner Mission vorantreiben soll: Nun werde er sich zu seinem Schiff begeben, um sich dort auf die Abfahrt von Lemnos vorzubereiten. Nach einer ersten Verabschiedung (καὶ σύ, Ποίαντος τέκνον, χαῖρʼ ὡς μέγιστα) und der erstaunten Nachfrage Philoktets („Schon brecht ihr auf?“ v. 466), bekräftigt er erneut seine feste Überzeugung, nun sei der richtige Moment gekommen, die Insel zu verlassen (καιρὸς γὰρ καλεῖ). Mit der mit Vers 468 einsetzenden Rede Philoktets schließt sich der dritte umfangreiche Monolog des Epeisodions an, an dessen Ende erneut eine Kommentierung durch den Chor erfolgt. Vergegenwärtigen wir uns Inhalt, Aufbau und Motivik der mehr als 35 Verse umfassenden Rhesis.
Unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel fleht Philoktet sein Gegenüber an, ihn nicht auf Lemnos zurückzulassen. Auch wenn ihm dabei klar sei, welche Schwierigkeiten mit dem Transport des Schwerkranken verbunden seien (δυσχέρεια τοῦδε τοῦ φορήματος v. 473f.), stellt er Neoptolemos, sollte er sich seiner erbarmen, eine wesentliche Vermehrung seines Ruhms in Aussicht (πλεῖστον εὐκλείας γέρας v. 478). Neoptolemos solle es wagen (τόλμησον) und ihn dabei an der Stelle auf seinem Schiff unterbringen, wo er den Mitreisenden am wenigsten zur Last falle (v. 481ff.).
Unter Anruf des Zeus (πρὸς αὐτοῦ Ζηνὸς ἱκεσίου v. 484) bittet Philoktet, Neoptolemos solle ihn entweder zu sich nach Hause oder nach Euboia bringen; von dort habe er es nicht mehr weit in seine Heimat, wo er seinen Vater wiederzusehen hoffe. Schon lange habe er zudem die Sorge, sein Vater sei gestorben: Denn trotz wiederholter Nachrichten, die er den zufällig auf Lemnos Gelandeten mitgab, sei noch keine Antwort eingetroffen. Vielleicht, so die Überlegung des Protagonisten, sei dieser Umstand allerdings auch den Boten geschuldet, die, ohne sich um ihn zu kümmern, nur auf ihre eigene Heimfahrt bedacht gewesen seien (v. 488ff.). Jetzt aber (νῦν δʼ v. 500) sei es an Neoptolemos, ihn zu retten und sich seiner zu erbarmen (σὺ σῶσον, σύ μʼ ἐλέησον v. 501). Eine allgemeine Überlegung schließt den Monolog ab: Vor dem Hintergrund des gefahrenreichen menschlichen Lebens sei es geboten, dass gerade diejenigen, die vom Leid unberührt sind, aufmerksam auf das Unheil anderer achten, um nicht unversehens selbst zu Grunde zu gehen (v. 502ff.).27
Der von Neoptolemos in Vers 461 gesetzte Impuls hat seine Wirkung nicht verfehlt: Nachdem der Handlungsfluss in der Heldenschau der Verse 412ff. zu einem Ruhepunkt gekommen war, beschleunigt und emotionalisiert sich das Bühnengeschehen an unserer Stelle erneut. Bestimmendes Moment des vorliegenden Monologs ist dabei die gehäufte Verwendung von Imperativen, die bald positiv – θοῦ με v. 473, τλῆθι v. 475, ἴθʼ v. 480, τόλμησον und ἐμβαλοῦ v. 481 usw. (besonders beachtenswert: ἔκσωσον v. 488 wieder aufgegriffen in σῶσον v. 501) – bald verneint – μὴ λίπῃς v. 470, μή μʼ ἀφῇς v. 486 – der Szene ungeahnte