Betrachten wir zunächst kurz diesen formalen Befund: Sophokles komponiert an unserer Stelle einen besonders vielfältigen Wechselgesang, der neben (lyrischer) Rede und (anapästischer) Gegenrede dem Chor Raum für eine ausführliche und ununterbrochene lyrische Ausleuchtung – geradezu eine Kurzode v. 169–190 – lässt und schließlich in ein bewegtes Vorausahnen des bevorstehenden Auftritts Philoktets mündet. Die Auftrittsszene des Chors zeichnet sich so – neben ihrer Länge von über 80 Versen – durch die Verbindung unterschiedlicher Formteile aus, mit der sich, wie der inhaltliche Durchgang zeigen wird, eine spezielle, gegliederte dramaturgische Wirkabsicht verbindet.
Die Passage soll im Detail nachvollzogen werden. Der Chor wendet sich mit seiner ersten Äußerung direkt an Neoptolemos, dem er als seinem „Herrn“ (δέσποτʼ) mit besonderer Verehrung gegenübersteht: Was, so fragen die Schiffsleute, müssen sie in der aktuellen Situation, d.h. als Fremde in der Fremde, verbergen, was dürfen sie gegenüber dem „argwöhnischen Mann“ (ἄνδρʼ ὑπόπταν) aussprechen (στέγειν ἢ λέγειν)? Neoptolemos soll ihnen dies darlegen, da er sich durch die spezifische Fähigkeit (τέχνα) eines Regenten in besonderer Weise auszeichne.4 Schließlich sei auf Neoptolemos, wenn auch jung (vgl. die Anrede ὦ τέκνον5), die gesamte altehrwürdige Macht (seines Vaters und von dessen Vorfahren) gekommen. Ein zweiter Imperativ schließt die Strophe ab und fordert den Angesprochenen erneut auf, darzulegen, wie der Chor ihm zur Seite stehen soll (ὑπουργεῖν).
Mit besonderen sprachlichen Mitteln gestaltet Sophokles einige zentrale Momente der Aussage. So prägt die Strophe ganz der emotional fragende Duktus des Chors: Das zu Beginn verdoppelte τί wird im folgenden Vers (136) wieder aufgegriffen und leitet zudem den letzten Vers (143) vor Neoptolemosʼ Antwort ein. Damit in Verbindung stehen die schon erwähnten zwei Imperative φράζε und ἔννεπε, einmal nach der durch τί eingeleiteten Frage, einmal davor. Das klangliche Spiel mit ξένᾳ ξένον spiegelt sich kurz danach in τέχνα τέχνας, was die beiden Pole des Reflexionshorizonts deutlich hervortreten lässt: auf der einen Seite die fremde und unbekannte Situation, auf der anderen die überlegene Qualität des Neoptolemos.
Der Angesprochene richtet den Blick des Chors in seiner ersten anapästischen Partie zunächst auf die Wohnstätte Philoktets (δέρκου θαρσῶν) und erbittet sich daraufhin vom Chor für den Fall von dessen Auftreten eine der Situation angemessene Unterstützung (τὸ παρὸν θεραπεύειν) unter seiner Anleitung (πρὸς ἐμὴν χεῖρα).
Der Chor unterstreicht in seiner Antwort (v. 150ff.) zunächst die enge Bindung zwischen ihm selbst und Neoptolemos: Gerade auf den Vorteil6 ihres Herrn bedacht zu sein, ist für die Schiffsleute schon lange (πάλαι) Gegenstand ihrer Sorge. Die Doppelung μέλον μέλημα bildet dabei (zusammen mit dem nachklappenden μοι) die sprachlich durch Alliteration und etymologisches Spiel herausgehobene Verbalisierung des innigen Vertrauensverhältnisses zwischen dem Chor und seinem jugendlichen Kapitän.7 Der Blick der Choreuten wendet sich im Anschluss erneut in die dramatische Gegenwart: Jetzt (νῦν δέ in Abgrenzung von bzw. Fortführung des πάλαι v. 150) solle Neoptolemos sie mit weiteren Informationen versorgen und ausführen, welche Behausung Philoktet genau bewohnt. Dies zu wissen sei sicherlich nicht unvorteilhaft (ἀποκαίριον), um nicht vom plötzlich heranstürmenden (προσπεσών) Einsiedler überrascht zu werden. Den Schluss der Gegenstrophe bildet die Aneinanderreihung von drei Fragen nach den genauen Umständen der Wohn- und Aufenthaltssituation Philoktets: „Um welchen Ort geht es genau, was ist sein genauer Wohnsitz, welchen Pfad benutzt er, d.h. wo ist er im Moment, in seiner Höhle oder außerhalb?“
Die referierte Passage spiegelt in gewisser Weise die erste Strophe wider und entwickelt sie auf Grund der bereits gegebenen Antwort weiter. Erneut ist die Äußerung des Chors, nach der Versicherung der Sorge um Neoptolemos, vom fragenden Duktus geprägt: Wurden bei der ersten Äußerung des Chors Instruktionen über das weitere Vorgehen erbeten, so steht hier nun die konkrete Information über die Zielperson und ihren Aufenthaltsort im Vordergrund. Wieder sind es vier durch eine Form von τίς eingeleitete Fragen, die sich um einen die Beantwortung erbittenden Imperativ gruppieren (λέγʼ v. 153).
Nachdem bereits Neoptolemos in Vers 146f. Philoktet zum Subjekt einer erwartbaren Handlung gemacht hat, tritt der Protagonist auch in der Gegenstrophe immer mehr in den Fokus der Betrachtung: War er zunächst nur reines Gegenüber (πρὸς ἄνδρʼ ὑπόπταν v. 136), so richtet sich das Interesse des Chors nun konkret auf sein Tun und seine Lebenswirklichkeit; Philoktet erscheint demgemäß als Subjekt der Fragen nach Wohn- und Aufenthaltsort (ναίει v. 154, ἔχει v. 154, 157), wobei sein Auftreten als konkrete Aussicht in die Reflexion einbezogen wird (προσπεσών v. 156).
Neoptolemos verweist zunächst wieder auf die „doppeltürige“ Behausung und wird daraufhin sogleich vom Chor unterbrochen, der sich nach dem aktuellen Aufenthaltsort Philoktets erkundigt (v. 161). Die Apostrophierung des Protagonisten in diesem Vers als ὁ τλήμων ist von besonderer Bedeutung: Zum ersten Mal innerhalb der lyrischen Partie wird die Figur des Haupthelden mit einem Adjektiv bedacht, das Mitleid und Anteilnahme von Seiten des Chors erkennen lässt. Der die Symmetrie der Sprecherverteilung (siehe Tabelle oben) brechende Vers enthält so eine Andeutung des im Folgenden bestimmenden emotionalen Blicks auf den Protagonisten; seine besondere Stellung korrespondiert mit der perspektivischen Verschiebung, die sich in den folgenden beiden Strophen des Chors (v. 169–190) zu einem ausgreifenden Panorama weiten wird.
Die Frage des Chors beantwortet Neoptolemos im Anschluss: Philoktet befinde sich, so viel sei ihm klar, in der Nähe auf Nahrungssuche; immerhin, so sage man (λόγος ἐστί), sei es die grundlegende Art und Weise seines Lebens,8 in mühseliger Weise mit seinen Pfeilen auf die Jagd zu gehen, wobei sich jedoch keine Linderung seiner Übel einstelle.
Die wesentlichen Fakten der dramatischen Situation sind so an den Chor weitergegeben; die Information über die aktuelle Lage hat damit ein Ende gefunden und ist, nach einer Bemerkung zum allgemeinen Zustand Philoktets, unversehens in die Imagination des von Schmerzen geplagten Jägers übergegangen. Gerade die eindrucksvolle Junktur στυγερὸν στυγερῶς bzw. σμυγερὸν σμυγερῶς9 sowie der Hinweis auf die fehlende – und damit impliziert: ersehnte – Heilung nehmen Abstand vom rein informierenden Sprachduktus und bieten der Ausgestaltung des konkreten Bildes den direkten Anknüpfungspunkt für die einsetzende Reflexion des Chors.10
So beginnt schließlich auch die zusammenhängende Passage chorischer Ausleuchtung mit der betonten Bekundung des eigenen Mitgefühls (v. 169). Dabei rahmen das Prädikat οἰκτίρω „Mitleid fühlen“ und das herausgehobene ἔγωγʼ „ich für meinen Teil“ das Objekt νιν, was die emotionale Nähe zwischen dem Chor und dem Protagonisten geradezu greifbar werden lässt. Grund und Gegenstand der Sympathie entfaltet das Folgende wortreich: Ohne je das vertraute Gesicht eines sorgenden Mitmenschen zu sehen, sei Philoktet zutiefst unglücklich und immerzu allein (δύστανος, μόνος αἰεί v. 172) – eine differenzierende und ausgestaltende Fortführung des so bedeutenden ὁ τλήμων aus Vers 161. Die eigentliche Ursache dieses Leidens benennt der Chor erneut unter betonter Stellung der Prädikate νοσεῖ und ἀλύει: Philoktet leide an einer bösartigen Krankheit und sei außer sich bei jeder neuen Anwandlung seiner Not. Der affektvollen Frage in Vers 175, wie Philoktet dem nur standhalten könne (πῶς ποτε πῶς ἀντέχει), antwortet ein gedoppelter Anruf (v. 177ff.) der Hände, d.h. der Macht und der Kunstgriffe, der Götter (παλάμαι θεῶν11) und der unglückseligen Menschengeschlechter, deren Leben das Normalmaß übersteigt (μὴ μέτριος αἰών). Damit schließt die Strophe nach der konkreten Mitleidsäußerung gegenüber