Zuschauer und Leser sind sich dabei freilich bewusst, dass Odysseus seine Ankündigung aus dem Prolog verwirklicht hat: Der zur Szene gestoßene Kaufmann ist in Wahrheit der in den Versen 127ff. vorgestellte Späher, dessen Auftrag es ist, Neoptolemos geeignete Argumente für seine Mission zu liefern und so den Fortgang der Intrige zu beschleunigen.
Der Chor folgt der Szene im Weiteren wortlos: Sowohl in die Unterhaltung der drei Akteure (v. 542–627) als auch in das sich anschließende erneute Zwiegespräch zwischen Philoktet und Neoptolemos (v. 628–675) mischt er sich nicht mehr ein. Erst nach deren endgültigem Abtritt beginnt der Chor sein Stasimon in Vers 676. Der Inhalt der Kaufmannszene und des angeschlossenen Dialogs soll daher hier zunächst nicht ausgeführt werden; vor der Behandlung des Standliedes wird eine kurze Rekapitulation die entscheidenden Momente herausarbeiten. An dieser Stelle soll zunächst ein Überblick über das gesamte Epeisodion in seiner formalen Gestaltung erfolgen.
Machen wir uns dazu Folgendes bewusst: Die ausgreifende Szene zerfällt in drei Teile: kurzer Wortwechsel zwischen Neoptolemos und Philoktet, Kaufmannszene sowie anschließender Austausch der auf der Bühne Verbliebenen. Der Auftritt des Kaufmanns in Vers 542 unterbricht den von den Akteuren auf der Bühne intendierten Fortgang der Handlung und stellt nach Neoptolemosʼ Ankündigung aus Vers 461ff., Lemnos verlassen zu wollen, einen zweiten dramatischen Impuls dar, der den bis dahin entwickelten Status der Handlung in eine neue Richtung lenkt. War die Szenerie nach Neoptolemosʼ Einwilligung und Philoktets euphorischer Reaktion in Vers 538 zu einer ersten Auflösung gelangt, so steigert der Auftritt des Kaufmanns – und damit das hinterszenische Eingreifen des Odysseus – die dramatische Brisanz erneut. Nach dem Abtritt des dritten Akteurs in Vers 627 hat sich erneut eine dem ersten Teil des Epeisodions vergleichbare Gesprächssituation eingestellt: Wieder stehen sich Neoptolemos und Philoktet gegenüber, wieder scheint die Abreise von Lemnos unmittelbar bevorzustehen. Während dabei der Chor dem zweiten und dritten Teil des Epeisodions still folgt, ist seine Präsenz bis zum Auftritt des dritten Schauspielers von entscheidender struktureller und motivischer Bedeutung. Die drei ausführlich besprochenen Äußerungen des Chors markieren dabei jeweils das Ende wichtiger Monologe und reflektieren formal wie inhaltlich das unmittelbar Vorausgegangene. Sie sind, wie gezeigt wurde, passgenau in den dramatischen und motivischen Kontext eingearbeitet: Gerade die Reaktion auf Philoktets ersten Monolog (v. 317f.) war trotz ihrer standardisierten Form bereits von besonderer Brisanz geprägt gewesen, hatte sie doch zum einen die Ambivalenz der chorischen Haltung vor Augen geführt, zum anderen in besonderer Weise auf das bereits entfaltete Mitleidsmotiv angespielt.
Besonderes Augenmerk verdienen indes die beiden lyrisch komponierten Äußerungen des Chors innerhalb der Szene: Indem Sophokles hier den konventionellen Doppelvers der chorischen Kommentierung in einer (für uns) beispiellosen Komposition an zwei Stellen durch korrespondierende Strophen ersetzt, schafft er einen besonderen Akzent. Für die Dramaturgie der Szene ist damit zweierlei gewonnen: Zum einen ist die Fülle chorischer Präsenz innerhalb der Szene punktuell nutzbar gemacht; zum anderen sind die lyrischen Passagen so fest im dramatischen Ablauf eingebunden, dass sie die Handlung nicht unterbrechen, sondern geradezu fortsetzen und intensivieren. Dass an den entsprechenden Stellen kein Spannungsabfall eintritt, ist der Fortführung struktureller und sprachlicher Motive aus dem unmittelbar Vorangegangenen in den Strophen selbst geschuldet.
Anders gesagt: Sophokles integriert die chorische, d.h. lyrische Ausdeutung der Situation, wie sie im Regelfall ein strophisches Chorlied (oder ein lyrischer Wechselgesang) leistet, mitsamt der einhergehenden Bühnenwirkung (Musik, Tanz) in die Szene selbst und macht sie zudem zum strukturellen Bestandteil des Epeisodions.34 Die metrische Korrespondenz der beiden Strophen ist dabei ein entscheidendes Moment: In den Trachinierinnen ist das Lied des Chors im ersten Epeisodion (v. 205–224) – formal die am ehesten vergleichbare Stelle unseres Dichters – ein spontaner, nicht strophisch komponierter Freudenausbruch.35 Hier ist der Eindruck ein anderer: Die Komposition trägt zur Strukturierung der Passage bei und stellt eine Verbindung zwischen den beiden Strophen her. Sie sind in besonderer Weise aufeinander abgestimmt, nehmen dabei unterschiedliche inhaltliche Momente und Zeitebenen in den Blick und geben so der gesamten Szene einen strukturellen Rahmen.
Stasimon (v. 676–729)1
Der Fortgang des ersten Epeisodions nach dem Auftritt des angeblichen Kaufmanns wurde bereits angedeutet. Hier soll ein kurzer Überblick zur Einordnung genügen.
In seiner Unterredung mit Neoptolemos entfaltet der aufgetretene Akteur den (vorgeschobenen) Grund seines Kommens: Er sei hier, um Neoptolemos zur Eile zu mahnen, denn Phoinix und die Söhne des Theseus verfolgten ihn bereits (διώκοντες v. 561). Odysseus und Diomedes seien dagegen bestrebt, Philoktet zu fassen und ihn nach Troia zu bringen. Unmittelbarer Beweggrund der angestoßenen Rückholaktion sei ein Orakelspruch des Seher Helenos: Ohne Philoktet in ihren Reihen sei es den Griechen nicht möglich, Troia einzunehmen. Odysseus habe sich daher bereiterklärt, den vormals Ausgesetzten nötigenfalls mit Gewalt ins Heerlager zu bringen. Nach Philoktets entsetztem Aufschrei, er werde gezwungen werden, gleich einem Toten erneut ans Licht zu kommen (v. 622–625), verlässt der Kaufmann zügig die Bühne.
Philoktet ist sich im Folgenden der gebotenen Eile voll und ganz bewusst; er fordert Neoptolemos nachdrücklich auf, sich gleich in Bewegung zu setzen (χωρῶμεν v. 635, ἴωμεν v. 637). Dieser verweist auf die Notwendigkeit günstigen Windes und schlägt seinem Gesprächspartner vor, gemeinsam in der Höhle die Dinge zusammenzusuchen, die Philoktet am nötigsten hat. Neben einem bestimmten Kraut (φύλλον τι v. 649), das zur Schmerzlinderung beiträgt, findet dabei der Bogen Philoktets besondere Erwähnung. Neoptolemos, der sich aus den Belehrungen des Odysseus der überragenden Bedeutung dieser Waffe bewusst ist (vgl. v. 68, 77f., 113), fragt mit ehrfurchtsvoller Scheu nach der Erlaubnis, das Requisit berühren, ja, es sogar einem Gott gleich küssen und verehren zu dürfen (v. 656f.). Philoktet gestattet seinem zukünftigen Retter freimütig den Umgang mit seinem ganzen Besitz – im Besonderen mit seinem Bogen, den er als Lohn für eine gute Tat erhalten habe (v. 667ff.). Vor dem gemeinsamen Abtritt in die Höhle bekundet schließlich Neoptolemos seine enge Bindung zum Protagonisten: Es betrübe ihn nicht, Philoktet kennen gelernt und als Freund gewonnen zu haben; denn einer, der nach erlittenen Widrigkeiten gutes Verhalten an den Tag legt, sei als Freund nützlicher als jeder Besitz.2 Nach Vers 676 verlassen die Akteure schließlich den für das Publikum sichtbaren Teil der Bühne, worauf der Chor sein Standlied beginnt.
Machen wir uns die Situation kurz bewusst. Der Auftritt des Kaufmanns hat der Szene ungeahnte Dynamik verliehen: Vor der durch das doppelte Verfolgungsszenario aufgebauten Drohkulisse zeichnet sich der baldige Aufbruch von Lemnos als unvermeidlicher nächster Schritt innerhalb der Intrige lebhaft ab. Die Thematisierung des Orakels ruft dabei – wie bereits erwähnt – bei Neoptolemos und dem Publikum die Ausführungen des Odysseus vom Beginn der Tragödie ins Bewusstsein. Dem über die wahren Zusammenhänge informierten Leser und Zuschauer ist damit erneut vor Augen geführt, dass die Einnahme Troias als Endzweck hinter den Maßnahmen zur Täuschung des Protagonisten steht. Das Bühnengeschehen rund um die Akteure Philoktet und Neoptolemos ist damit schlagartig in den größeren Zusammenhang der gesamten Intrige gerückt. Anders gesagt: Der durch den Auftritt des dritten Schauspielers erfolgte Impuls hat die Perspektive des Geschehens geweitet und dabei grundlegende Momente der Handlung (den Orakelspruch, die beabsichtigte Einnahme Troias sowie Odysseusʼ hinterszenischen Einfluss) überdeutlich ins Gedächtnis gerufen.
Ihre bühnenwirksame Umsetzung in dramatische Handlung erfährt die in der Kaufmannsszene angerissene Thematik schließlich im Spiel um den Bogen in den Versen 652ff., das einen Kulminationspunkt des bisherigen Handlungsverlaufs darstellt: Als Moment höchster Vertrautheit zwischen Philoktet und Neoptolemos führt die Szene zugleich das Zielobjekt der Intrige mitsamt ihrem Endzweck – der Einnahme Troias – geradezu handgreiflich vor Augen.3 Dabei steht der Bogen zugleich sinnbildlich