Es folgt eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Prologsprechern, in der die von Odysseus intendierte Methode sowie deren moralische Einordnung diskutiert werden. Neoptolemos sei, so bekundet er, zwar bereit, Philoktet die Waffen unter Gewalt (πρὸς βίαν) zu entwenden, nicht aber durch List und Betrug. Odysseus argumentiert dagegen: Gewaltanwendung habe selbst gegen den invaliden Philoktet keine Aussicht auf Erfolg, und außerdem könne auch Neoptolemos, den ein Orakelspruch als Bezwinger Troias verheißen habe, ohne die in Frage stehenden Waffen sein Ziel nicht erreichen2. Achills Sohn ist schließlich überzeugt: Mit der Aussicht, bei Erfolg seines Plans sowohl „klug als auch gut“ genannt zu werden (σοφὸς κἀγαθός v. 119),3 gibt er alle moralischen Bedenken auf (πᾶσαν αἰσχύνην ἀφείς v. 120). Odysseus instruiert ihn abschließend (v. 123–132): Während Neoptolemos hierbleiben und Philoktet gegenübertreten solle, werde er selbst die Szenerie verlassen und, wenn die Zeit allzu lang zu werden drohe, den mitgebrachten Späher als Kaufmann verkleidet hinzuschicken. Mit einem Gebet um den Beistand von Hermes, Nike und Athene (v. 133f.) begibt sich Odysseus zu seinem Schiff und überlässt Neoptolemos die Situation. Mit Vers 135 beginnt daraufhin die Parodos des Chors.
Folgendes soll zusammengefasst werden. Der vorliegende Prolog ist in dramaturgischer Hinsicht von herausragender Meisterschaft: Mit der Ankunft auf Lemnos beginnt das Drama mit dem natürlichen Anfangspunkt der darzustellenden Handlung; die Einführung in Ort, Zeit und Personal geschieht dabei ganz aus der dramatischen Fiktion heraus und bildet den Auftakt zur sich entspinnenden Bühnenhandlung. Gerade die Suche und Beschreibung der Wohnstätte des Philoktet ist von wirkungsvoller Drastik und sinnlicher Erfahrbarkeit; indem das Gespräch der beiden Akteure dabei den Schauplatz konkret ausleuchtet, bindet es die Handlung ganz intensiv an den Bühnenraum. Anders gesagt: Der in besonderer Weise gestaltete Bühnenraum ist selbst entscheidendes Moment der Handlung.
Der Hauptheld ist dabei zwar als Person nicht anwesend, aber dennoch durch die Beschreibung seines Lebensumfelds, der von ihm genutzten Werkzeuge und Einrichtungen sowie auf Grund der Annahme, er befände sich ganz in der Nähe, vor dem geistigen Auge der Akteure und des Publikums in hohem Maße präsent. Hier bereits wird der Auftritt des Protagonisten vorbereitet und rückt in den Erwartungshorizont der Rezipienten.
Mit den Instruktionen des Odysseus ist weiterhin der Ablauf des Stückes grob gezeichnet: Neben Philoktets Erscheinen ahnen Zuschauer (und Leser) ebenso mögliche Trugreden des Neoptolemos, den mit einiger Sicherheit erfolgenden Auftritt des Spähers und – als Kulminationspunkt – eine mögliche Konfrontation Philoktet-Odysseus bereits voraus.
Zugleich mit diesen dramaturgischen Implikationen zeichnet Sophokles im vorliegenden Prolog die Charaktere der beiden Akteure trennscharf und einfühlsam: Indem sich dabei über die moralische Bewertung der anstehenden Handlungen eine belebte Diskussion entwickelt (vgl. die Stichomythie der Verse 100–122), stellt schon der Prolog eine lebendige, konfrontativ-dialogisierende Szene dar; der Einstieg in das Drama präsentiert so nicht bereits fertige Ergebnisse in Form unwiderruflich feststehender Entschlüsse, sondern ist selbst schon Teil der dramatischen Problematisierung, der Auseinandersetzung mit einem der Handlung und der Personenkonstellation innewohnenden Sachverhalt.
Der Kunstgriff unseres Dichters, Philoktet auf einer unbewohnten Insel hausen zu lassen, wurde oben bereits erwähnt. Aischylos und Euripides folgten dagegen der Tradition4 und brachten in ihren Bearbeitungen die Einwohner von Lemnos gar als Chor auf die Bühne.5 Sophokles hat es dabei nicht versäumt, schon ganz zu Beginn der Tragödie auf diesen Umstand hinzuweisen (Odysseusʼ Feststellung über Lemnos: βροτοῖς ἄστιπτος οὐδʼ οἰκουμένη v. 2) und so die mögliche Erwartungshaltung des Publikums in besonderer Weise zu brechen. Nach dem innerdramatisch motivierten Abtritt des Odysseus, der in seinen Instruktionen den intendierten Gang der Handlung bereits insinuiert hatte,6 kann daher nicht der Auftritt der lemnischen Bevölkerung folgen. Die auf der Bühne präsente Personenkonstellation könnte sich daher einzig im Auftritt des Titelhelden selbst wesentlich öffnen, d.h. einen wirklichen Handlungsfortschritt inszenieren. Die ebenso der dramatischen Fiktion geschuldete andauernde Bühnenpräsenz des Neoptolemos macht darüber hinaus bereits vor dem Eintreffen des Chors deutlich, dass mit der Parodosszenerie nichts unmittelbar Neues etabliert werden kann. Neoptolemos bildet in diesem Sinn geradezu die dramatische Brücke, die die beiden Formteile Prolog und Parodos verbindet und so in einen durchgängigen Handlungsfluss einordnet.7
Parodos bzw. Wechselgesang (v. 135–218)
Die Auftrittsszenerie des Chors1 gestaltet Sophokles an unserer Stelle als umfangreiche lyrische Partie, die die Formteile Parodos und Kommos miteinander verknüpft und damit einen wirkungsvollen dramatischen Akzent setzt. Machen wir uns zunächst die formale Struktur des Ganzen klar, bevor wir die Passage im Einzelnen durchgehen.2
Das Wechselgespräch entwickelt sich zunächst in der Abfolge zweier Strophen des Chors (v. 135–143 sowie 150–185), auf die Neoptolemos in anapästischen Versen antwortet (v. 144–149 sowie 159–168, unterbrochen durch den Chor in Vers 161). Die folgenden zwei Strophenpaare des Chors (v. 189–190) werden durch Neoptolemos erneut in Anapästen kommentiert (v. 191–200), worauf sich wiederum ein Strophenpaar des Chors anschließt, das durch zwei kurze Zwischenfragen (v. 201 und 210) unterbrochen wird. Die folgende Tabelle soll dies verdeutlichen:
Sprecher | Anzahl der Verse | Metrik3 | strophische Einordnung |
Chor | 9 | „lyrisch“ | Strophe A |
Neoptolemos | 6 | anapästisch | |
Chor | 9 | „lyrisch“ | Gegenstrophe Aʼ |
Neoptolemos + Chor (!) | 9 1 | anapästisch anapästisch | |
Chor | 11 | „lyrisch“ | Strophe B |
Chor |
11
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