In welcher konkreten Beziehung das so behandelte Thema (und dementsprechend die gesamte Reflexion) zur dramatischen Handlung steht, kann dabei dezidiert ausgesprochen oder auch nur implizit angedeutet werden.6
Das Verständnis derartiger Reflexionen ist zunächst davon abhängig, das eigentliche Thema bzw. die Themen zu bestimmen bzw. zu umreißen. Die nachvollziehende Interpretation derartiger Partien legt ferner besonderen Wert auf das Verständnis der kausallogischen Verknüpfung der einzelnen Gedanken und das Erfassen der Gedankenbewegung, sowie gegebenenfalls auf die Rekonstruktion eines abstrakten, teils spekulativen Reflexionsrahmens, innerhalb dessen sich die konkrete Ausdeutung verorten lässt.
2.3 Imaginativ-visualisierende Reflexion1
Anliegen eines imaginativ-visualisierenden Reflexionszugangs ist es dagegen, ein möglichst plastisches, figuratives Bild zu entwerfen. Der dem dramatischen Geschehen entnommene Gegenstand der Reflexion wird so in eine oder mehrere imaginative bzw. visualisierende Szenen umgesetzt, die entweder detailliert und umfassend ausgestaltet oder im Sinne eines Schlaglichts kurz angerissen sein können. Dabei kann ein bildlich ausgestaltetes Motiv für eine Passage programmatische Wirkung haben und verschiedene Szenen miteinander verbinden.2
Es ist dabei von Zeit zu Zeit hilfreich, innerhalb dieses Reflexionsansatzes etwas weiter zu differenzieren: Unter Visualisierung soll das konkrete Sichtbarmachen eines der eigentlichen Handlung zugehörigen, den Rezipienten – d.h. dem Theaterpublikum – aber nicht erfahrbaren, weil hinterszenischen3 oder zurückliegenden4 Geschehens verstanden werden. Imagination meint dagegen die bildhafte Ausgestaltung eines der Handlung entsprungenen oder mit ihr in Zusammenhang stehenden Moments, das allerdings kein eigentliches zum engen Rahmen der Handlung gehörendes Geschehen darstellt. So kann beispielsweise eine der dramatischen Situation innewohnende Stimmung durch den Chor in einem Bild illustriert werden5 oder aber die Imagination von Orten oder Personen außerhalb des Handlungsorts zur Kontrastierung mit dem eigentlichen Geschehen erfolgen.6
Die Interpretation der durch den imaginativ-visualisierenden Reflexionszugang geprägten Partien hat ihr Augenmerk demnach im Speziellen auf die Gestaltung der poetisch-bildhaften Details zu richten und den Einsatz besonders prominenter poetischer Mittel (v.a. die Personifikation bzw. Prosopopoiie, gegebenenfalls die Narrativik der Passage) zu untersuchen. Gerade der Einsatz von Adjektiven, die Verortung des aufgeworfenen Bildes in Zeit und Raum (in Relation zum eigentlichen Bühnengeschehen) und das je eigene Verhältnis einzelner Bildebenen sind bei der nachvollziehenden Interpretation von besonderem Interesse.
3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung
3.1 Begriffsklärung
Dass den reflektierenden Chorpartien als Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers genuin dramaturgische Funktion zukommt, ist oben bereits angemerkt worden. Diese Arbeit verzichtet bewusst darauf, ein (theaterwissenschaftlich-)theoretisch fundiertes, modernes Konzept von Dramaturgie zu entwerfen. Was mit dem Begriff „Dramaturgie“ und der damit zusammenhängenden dramaturgischen Funktionalisierung bzw. den dramaturgischen Implikationen verstanden werden soll, muss dennoch in aller Kürze umrissen werden.
Dramaturgie meint im Rahmen dieser Arbeit die mit Blick auf die Lenkung der Aufmerksamkeit des Rezipienten vorgenommene Anordnung der einzelnen Formteile der Tragödie sowie ihre absichtsvolle Gestaltung im Einzelnen.1 Ganz vom jeweils dargestellten Mythos, dem Plot der Tragödie ausgehend, fragen die unter dem Schlagwort „Dramaturgie“ subsumierten Ansätze daher sowohl nach der Struktur der Tragödie im Ganzen, der Komposition ihrer Teile sowie der damit einhergehenden bzw. durch sie konstituierten Dramatisierung der eigentlichen Handlung bzw. der mit ihr in Zusammenhang stehenden Phänomene und Momente.
Entscheidende Untersuchungsgegenstände sind dabei unter anderem die Steuerung des dramatischen Tempos, d.h. der bewusste Wechsel von Partien, die die Handlung beschleunigen, und solchen, die den Fluss des Geschehens verlangsamen, sowie der Einsatz bestimmter Formelemente zur Strukturierung des Dramas. Der besondere Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf den Chorpartien sowie der chorischen Präsenz im Ganzen. Deren dramaturgischen Wert für das jeweilige Einzelstück herauszustellen sowie den Versuch einer Gesamtschau über die uns überlieferten Tragödien des Sophokles zu umreißen, ist eine Hauptaufgabe der Untersuchung. Um den spezifischen dramaturgischen Wert einer untersuchten Chorpassage zu fassen, sollen dabei die durch ihre Gestaltung im Einzelnen sowie ihre Positionierung innerhalb des Stückganzen gegebenen dramaturgischen Implikationen aufgespürt werden. Konkret wird daher gefragt werden, wie einzelne poetische bzw. reflektierende Momente und Gestaltungsprinzipien dramaturgisch funktionalisiert werden. Im besten Fall lässt sich daraufhin die dramaturgische Funktion einer ganzen Partie möglichst konzise angeben.
Wie bereits bei den Reflexionsstrategien muss auch hier eine grundlegende Einordnung und Kategorisierung vorgenommen werden, die als Leitfaden für die Interpretation der Einzelpassagen dienen kann. Der Fülle an Ansätzen zur Reflexion sowie ihrer konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Chorpassagen steht auch hier eine besonders vielgestaltige und je im Einzelfall zu betrachtende Fülle an dramaturgischen Implikationen gegenüber. Wieder scheint es dabei geraten, von einem breitgefächerten Spektrum auszugehen, das am besten erneut über seine Ränder abgesteckt wird.
Da, wie eben ausgeführt, unter Dramaturgie im Wesentlichen die der jeweiligen Handlung angepasste, ihr entsprechende Komposition der einzelnen Formteile verstanden werden soll, spielt bei der Frage des Spektrums dramaturgischer Funktionalisierung das spezielle Verhältnis von chorischer Reflexion zu dramatischer Handlung eine entscheidende Rolle. Zwei Arten der Nutzbarmachung reflektierender Partien in Relation zur Handlung sollen dabei die Randpunkte des Spektrums bezeichnen. Wieder ist, wie oben, vorauszuschicken, dass diese beiden Punkte Extreme darstellen, die einzig den Rahmen umfassen, innerhalb dessen sich die konkreten, d.h. in den Stücken selbst zu erweisenden Funktionalisierungen und dramaturgischen Implikationen finden lassen. Inwieweit eine Realisierung des einen oder anderen Funktionalisierungskonzepts in Reinform anzutreffen ist, wird die Einzelanalyse ad locum zu ergründen versuchen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der beiden Funktionalisierungskonzepte untereinander und den Übergang von einem zum anderen. Auch diese Entscheidung muss jeweils in der Untersuchung der Einzelstelle bzw. der vorliegenden Tragödie erfolgen; eine Faustregel soll dabei erste Klarheit schaffen und den Blick auf die Problematik öffnen.
Im Bereich der möglichen Funktionalisierung chorischer Reflexion im Verhältnis zur Handlung sollen im Folgenden Fokussierung und Kontextualisierung2 als Eckpunkte des Spektrums unterschieden werden.3 Von der in diesem Spektrum verorteten dramaturgischen Funktionalisierung ist der jeweilige Rezeptionsansatz – thematisch-begrifflich oder imaginativ-visualisierend – dabei zunächst unabhängig. Das heißt, dass theoretisch eine thematisch-begriffliche Reflexion sowohl im Sinne einer Fokussierung als auch einer Kontextualisierung funktionalisiert sein kann; Entsprechendes gilt für imaginativ-visualisierende Reflexionen. Es ist die Aufgabe der Gesamtschau am Ende dieser Arbeit, auf Basis der Einzelanalysen das Verhältnis dieser beiden Spektren zueinander näher zu bestimmen; für den Moment, d.h. die theoretische Erarbeitung der als Instrumentarium der Analyse verstandenen Begriffe, interessiert diese Relation noch nicht.
3.2 Fokussierung
Eine chorische Reflexion kann dazu dienen, auf ein bestimmtes Moment der Handlung dezidiert hinzuweisen und so die Aufmerksamkeit des Rezipienten darauf zu bündeln.1 Der Begriff „Moment“ ist dabei besonders weit gefasst: das Handeln eines Akteurs, die momentane oder generelle Situation eines Akteurs (gegebenenfalls des Chors selbst), eine Einwirkung von außen, der Ort des