Tab. 3:
Formen der Sprachdominanz in der Mehrheits- und Minderheitensprache nach Generationenzugehörigkeit (Darstellung nach Montrul 2016: 24)
Die einzelnen Generationen können wie folgt beschrieben werden: Die erste Generation ist selbst zugewandert. Häufig wurden diese Sprecher in der Minderheitensprache vollständig sozialisiert und beschult, insbesondere wenn die Einwanderung im Erwachsenenalter erfolgte. Die Kenntnisse in der Mehrheitssprache des Einwanderungslandes sind bei dieser Generation nur eingeschränkt vorhanden und richten sich stark nach den alltäglichen und beruflichen Bedürfnissen der Sprecher. Dieses Dominanzverhältnis kehrt sich in der zweiten Generation, also bei den HL-Sprechern in der vorliegenden Studie, um. Ihre dominante Sprache ist die Mehrheitssprache. Die Minderheitensprache bzw. eine gewisse Kompetenz in dieser bleibt als HL erhalten, obwohl meist nicht derselbe Grad an Flüssigkeit wie bei den Eltern erreicht wird (vgl. Polinsky 2015a: 7).
Der Kompetenzaspekt ist an dieser Stelle insofern von kritischer Bedeutung, als er über die (Nicht-) Weitergabe der HL an die dritte Generation entscheidet, die infolgedessen monolingual in der Mehrheitssprache sozialisiert wird: „[…] heritage languages often do not survive intergenerational transmission“ (Montrul 2011a: 158). Hierbei spielt nicht primär der erreichte und messbare Kompetenzgrad im Vergleich zur monolingualen Norm eine Rolle, sondern vielmehr die subjektive Einschätzung des Sprechers selbst. Sie bestimmt darüber, ob ein Sprecher sich in seiner HL kompetent genug fühlt, um sie an seine Kinder weiterzugeben.
Der auch in der vorliegenden Studie vorgenommene Rückgriff auf die zweite Einwanderergeneration eines Sprechers umschreibt demzufolge nicht ausschließlich familiär bedingte sprachbiographische Gegebenheiten, sondern reflektiert ebenso relative Spracherwerbs- und -dominanzverhältnisse und ist für die definitorische Abgrenzung eines HL-Sprechers unerlässlich: „[…] second generation bilinguals, who were born to families speaking a language different from that of the environment, are heritage speakers“ (Schmid 2011: 73f.; Hervorhebung i.O.). Der Terminus „HL-Sprecher“ lässt sich bei entsprechender Spracherwerbsbiographie und bei ähnlich gelagerten Sprachdominanzrelationen auch auf die dritte oder weitere Generation ausweiten, was insbesondere für die größeren Einwanderersprachgruppen nicht unwahrscheinlich ist. Er kann sich wiederum nur dann auf die erste Generation beziehen, wenn die Einwanderung in einem frühen Alter erfolgte. In diesem Fall zählen Benmamoun und Kollegen zusätzlich diejenigen Personen zur Gruppe der HL-Sprecher, die vor dem Alter von 8 Jahren eingewandert sind (vgl. Benmamoun et al. 2012: 9).
Diese willkürlich gesetzte Grenze wird in der hier durchgeführten Studie jedoch nicht übernommen (s. Abschnitt 6.3). Stattdessen soll in dieser Arbeit die Zuwanderung vor Schuleintritt über die Eingruppierung als HL-Sprecher entscheiden, denn durch den Eintritt in eine Bildungsinstitution erfolgt ein entscheidender Wendepunkt im HL-Erwerb, der sich stark auf die Sprachkompetenz der Sprecher auswirkt. Der typische HL-Sprecher ist demzufolge entweder selbst vor dem Schuleintritt mit seiner Familie eingewandert oder er ist im Einwanderungsland geboren und das Kind von Migranten. Entsprechend werden in der vorliegenden Arbeit die Teilnehmer primär durch ihre generationale Zuordnung nach diesem Kriterium eingegrenzt, aus dem sich anschließend die in (1) bis (4) diskutierten Merkmale des HL-Erwerbs ergeben.
3.2.2 Die Bedeutung der Sprachkompetenz für die Heritage-Language-Definition
Aktuell verwendete Definitionen von HL-Sprechern arbeiten meist ebenfalls mit den in (1) bis (5) beschriebenen Kontextfaktoren und formulieren bewusst keine Ansprüche an die Sprachkompetenz in der HL: „It is the historical and personal connection to the language that is salient and not the actual proficiency of individual speakers“ (Valdés 2001: 38). Weiteren Versuchen, eine Abgrenzung des HL-Sprechers von anderen Formen der Mehrsprachigkeit vorzunehmen, ist grundsätzlich diese Abkehr von einer Kompetenzmessung gemeinsam (vgl. Benmamoun et al. 2010; Polinsky & Kagan 2007; Valdés 2000). Dabei lässt sich eine enorme Spannweite in der Sprachkompetenz dieser Sprecher feststellen, obwohl sich für alle HL-Sprecher die oben unter (1) bis (5) diskutierten Kontextfaktoren des Spracherwerbs, Sprachgebrauchs und der Sprachdominanz ähnlich ausgestalten. Es werden sowohl Sprecher, die über rein passive Sprachkenntnisse in der HL verfügen und alltägliche Gespräche im intimen Register verstehen können, als auch jene, die eine ausgebaute Kompetenz in der HL aufweisen und in der Lage sind, sprachliche Handlungen im formellen Register gleichermaßen adäquat durchzuführen, als HL-Sprecher bezeichnet. Auch dieser Aspekt soll in die Eingrenzung des Samplings Eingang finden, indem die soziolinguistischen Merkmale zu einer Bestimmung als HL-Sprecher herangezogen werden und Kompetenzmessungen in der HL als nicht relevant betrachtet werden.
Solch eine soziolinguistisch orientierte Definition (vgl. Meisel 2013: 226), die nicht allein die Sprachkompetenz eines Individuums ins Zentrum rückt, sondern auch andere, sprachbiographische wie sozio-emotionale Faktoren berücksichtigt, steht im Einklang mit Forderungen der Erziehungswissenschaften nach einem erweiterten Konzept von „Muttersprache“ und vermag es, sich eines Linguizismusvorwurfs zu erwehren (vgl. Skutnabb-Kangas 1988: 16f.). So argumentiert beispielsweise Skutnabb-Kangas (ebd.), dass zusätzlich zur Kompetenz in der HL die Faktoren „Herkunft“, „Funktion“ und „Identität“ in die Definition einbezogen werden müssen. Während eine Eingruppierung mittels Sprachkompetenz oftmals ausschließlich die Qualität von Kenntnissen in Relation zu einer monolingualen Norm reflektiert, bezieht sich der Faktor „Herkunft“ auf die zuerst erworbene Sprache, „Funktion“ auf die am häufigsten verwendete Sprache und „Identität“ auf a) die Sprache, mit der sich der Sprecher selbst am stärksten identifiziert, sowie b) die Sprache, mit der der Sprecher von anderen assoziiert wird.
Im Gegensatz zu anderen Termini für Sprechertypen, die Sprachkompetenzbeschreibungen implizieren wie „Muttersprachler“ oder „Fremdsprachenlerner“, kann bei HL-Sprechern die Sprachkompetenz also keine zuverlässige Definitionsbasis darstellen, da durch die institutionellen Vorgaben die Mehrheitssprache gesellschaftlich stark dominiert und hierdurch gleichzeitig die Kompetenz in dieser intensiviert wird. Minderheitensprachen hingegen erhalten weitaus weniger Raum in der Gesellschaft und werden oft nicht gelehrt. „Use of this definition [i. e. competence, H. O.] fails to consider that a poor proficiency in the original mother tongue is a result of not having been offered the opportunity to use and learn the original mother tongue well enough in those institutional settings where the children spent most of their day“ (Skutnabb-Kangas 1988: 17). Dementsprechend werden in der vorliegenden Untersuchung alle Sprecher, auf die die Kriterien (1) bis (5) zutreffen und die über ein gewisses Maß an Kompetenz in ihrer HL verfügen, als HL-Sprecher betrachtet. Das Spektrum der Sprachkompetenz soll dabei sowohl Sprecher mit rein passiven Kenntnissen als auch balanciert Mehrsprachige einschließen.
3.3 Varianz in der Sprachkompetenz von Heritage-Language-Sprechern
Trotz mehrerer Gemeinsamkeiten in Bezug auf Merkmale der Sprachbiographie, des Sprachgebrauchs sowie der sozio-emotionalen Ebene, die für alle HL-Sprecher gleichermaßen gelten, resultiert der Spracherwerb von HL-Sprechern in einer enormen Varianz an HL-Kompetenz: „Those who exhibit most variability in bilingual ability are the second generation“ (Montrul 2011a: 157). Gründe hierfür liegen sowohl in dem Spracherwerbsverlauf des HL-Sprechers per se, der sich durch diesem Mehrsprachigkeitstypus inhärente Prozesse kennzeichnet, als auch in den außersprachlichen Kontextfaktoren, die für den HL-Erwerb hoch relevant sind und diesen begünstigen oder behindern können. Die Linguistik bringt jedoch die Varianz in der Sprachkompetenz des HL-Sprechers primär mit drei Phänomenen in Zusammenhang: Attrition und unvollständiger bzw. divergenter Erwerb. Im Gegensatz zu den letztgenannten Erwerbsausprägungen befassen sich zwar Studien zu Attrition mit Migranten der ersten Einwanderergeneration, die sich durch einen anderen Spracherwerbsverlauf als der HL-Sprecher auszeichnen. Dennoch lassen sich sowohl die Ursachen von Attrition als auch ihre Erscheinungsformen sehr gut auf HL-Sprecher übertragen, sodass hier eine theoriegeleitete Anlehnung an Attritionsforschung, wie auch Schmid und Köpke sie fordern, begründet erscheint: „Treating heritage language development and L1 attrition as different developmental contexts carves