Was sich als genuin neu an dieser Forschungsrichtung bestimmen lässt, ist nicht der Sprechertypus, den es so lange gibt wie Wanderungsbewegungen selbst: „There have been heritage speakers as long as immigration has moved families across language borders and as long as bilingual communities have been divided into dominant and minority language settings“ (Polinsky 2015a: 7; Hervorhebung i.O.). Vielmehr wandelte sich das Interesse an diesen Sprechern. Ebenso ist das Bewusstsein dafür gestiegen, dass es sich diese Sprachen ebenfalls zu bewahren und zu stärken lohnt: „Although heritage languages have been part of the linguistic landscape of many nations around the world for many years, what is new is the growing sense that minority languages are worth preserving and maintaining, rather than suppressing or ignoring“ (Montrul 2011a: 156).
Zusätzlich zu erfolgreichem Erwerb der Mehrheitssprache spielte infolge dieser Akzentverschiebungen in zahlreichen neueren Studien nicht zuletzt in Deutschland zunehmend die Erforschung derjenigen Bedingungen eine Rolle, die den Erhalt migrationsbedingter Mehrsprachigkeit im familiären und gleichsam im institutionellen Kontext fördern können (vgl. bspw. Anstatt 2011a; 2011b; 2013a; 2013b; Cantone et al. 2008; Meisel 2007a; 2007b; Müller et al. 2002). Diese jüngeren Arbeiten beschäftigen sich mit den Voraussetzungen, unter denen die HL in der Migrationssituation erhalten bleibt oder aber nicht mehr weitergegeben wird und abhandenkommt. Sie widmen sich also den Fragen nach Bedingungen und außer- wie innersprachlichen Umständen, die sich auf die Sprachkompetenz der HL-Sprecher auswirken und somit zur Sprachaufgabe oder zum Spracherhalt nicht-prestigeträchtiger allochthoner Minderheitensprachen beitragen können.
Die Erforschung von HLs verspricht zudem neue Erkenntnisse für die linguistische Theoriebildung, denn etablierte Hypothesen des Erstspracherwerbs gründen auf Erwerbsverläufen in einem monolingualen Kontext (vgl. Klann-Delius 2008; Szagun 2011). Erst unter Migrationsbedingungen lassen sich solche Verläufe für dieselben Sprachen auch unter nicht-monolingualen Bedingungen beobachten, sodass der Einfluss der Mehrheitssprache auf den Erwerb der Minderheitensprache sichtbar wird. Zudem kann für diese Sprechergruppe der ungesteuerte L1-Erwerb je nach Kontext ohne institutionelle Unterstützung, ohne Schutz durch den Staat oder ohne schriftsprachlichen Ausbau, Normierung und Standardisierung beschrieben werden. Da allochthone Minderheitensprachen oftmals gesetzlich nicht geschützt2 und Unterrichtsangebote in diesen häufig fakultativ sind, ist die Möglichkeit, ebenfalls die Standardvarietät der jeweiligen Sprache zu erlernen, in der Migrationssituation eingeschränkt. Die Erforschung von HL-Sprechern kann demzufolge aufgrund seiner Spracherwerbsbiographie neue Erkenntnisse über die Rolle der Umgebung und der äußeren Umstände beim Spracherwerb liefern.
Ferner wird die Bedeutung des Inputs bei der Beschäftigung mit HL-Sprechern in einem neuen Licht betrachtet. Denn sie erhalten im Vergleich zu Sprechern, die dieselbe Sprache unter monolingualen Bedingungen erwerben, nicht nur weniger Input in ihrer HL, sondern sie bekommen zudem einen qualitativ anderen Input, da alle HL-Sprecher von früher Kindheit an Kontakt zur Mehrheitssprache entweder in Betreuungseinrichtungen, durch Medien oder durch andere Familienmitglieder haben. Des Weiteren können alle Personen in der Umgebung des Kindes, mit denen es interagiert, bis zu einem gewissen Grad mit der Mehrheitssprache bilingual sein und ihr Herkunftsland unter Umständen selbst bereits als Kinder oder Jugendliche verlassen haben. Zusätzlich spielt zu einem späteren Zeitpunkt der oben genannte Aspekt des fehlenden Zugangs zu standardsprachlicher Varietät und zu Schriftlichkeit eine Rolle, der ebenfalls zu divergierendem Input während des Erwerbs einer HL führen kann.
Die Betrachtung von HLs ermöglicht es, den Zusammenhang zwischen Spracherwerb, Spracherhalt und den daran beteiligten Emotionen in einem neuen Kontext als bisher zu untersuchen. Während der Erwerb der Mehrheitssprache eines Landes für autochthone Sprecher nicht optional und emotionalen Einflüssen nicht zwingend unterworfen ist, erfährt die HL spätestens ab dem Eintritt des Sprechers in das Schulsystem fortdauernde Konkurrenz durch die Mehrheitssprache. Der Sprecher kann sich ab diesem Zeitpunkt einem gesellschaftlichen Druck zur Aufgabe seiner Sprache ausgesetzt sehen und erfährt durch den steten Kontakt zur Mehrheitssprache erstmals deutlich den geringen „Marktwert“ der HL. Dass HLs diese sensible Phase überstehen, ist sicherlich nicht zuletzt den ihnen seitens der Sprecher entgegengebrachten positiven Emotionen zuzusprechen.
All diese Besonderheiten der sprachlichen Sozialisation, des Inputs und der den Erwerb und Erhalt beeinflussenden Emotionen haben eine hohe Varianz in der Sprachkompetenz der HL-Sprecher zur Folge. Diese kann unter anderem für sprach- und bildungspolitische Schlussfolgerungen von großer Tragweite sein. Denn HL-Sprecher bilden zunehmend eine neue Zielgruppe als Lerner im Fremdsprachenklassenzimmer (vgl. Schroeder 2003; Tichomirowa 2011), nicht nur in der Schule, sondern vermehrt auch in tertiären Bildungsinstitutionen als sog. „re-learners“ (vgl. Montrul 2010a). Im Vergleich zum gängigen Fremdsprachenlerner stellen sie einen anderen Lernertypus dar, dessen Sprachkenntnisse eine völlig andere Herausforderung für die Lehrkraft bedeuten (vgl. Montrul 2011a: 159). Diese kommt zum einen durch die enorme Varianz in der Sprachkompetenz der Sprecher zustande. Zum anderen sind diese Sprachkenntnisse zusätzlich anders gelagert als die von Fremdsprachenlernern. Während letztere durch den Unterricht eher schriftsprachliche Strukturen erwerben und mit oraten Gebrauchsmustern weniger vertraut sind, bringen HL-Sprecher vergleichsweise gut ausgebaute mündliche Sprachkenntnisse von Zuhause mit.
Zusätzlich weisen HL-Sprecher andere Ansprüche an den Unterricht auf, denn sie fühlen sich der unterrichteten Sprache unter Umständen emotional und kulturell verbunden. Unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse könnte der Unterricht diese Zielgruppe in dem Erhalt ihrer HL stärken und sie mit wenig Aufwand zukünftig zu kompetenten und fortgeschrittenen Sprechern von selten gelehrten Sprachen werden lassen: „In order to better serve the needs of this immigrant population and help them reach their full linguistic potential in the heritage language, more needs to be unraveled about the nature of heritage language knowledge and its acquisition“ (Montrul 2008: 8). Um den Unterricht entsprechend gestalten zu können, ist es erforderlich, sowohl die von den Sprechern mitgebrachten Kompetenzen feststellen zu können als auch die Beweggründe Erwachsener für den Besuch entsprechender Kurse zu kennen, damit HL-Sprecher ihre sprachlichen Möglichkeiten im Sinne einer erfolgreichen Zweisprachigkeit voll ausschöpfen können.
Das Forschungsfeld der HL-Sprecher lässt sich zusammenfassend zu folgenden Themenschwerpunkten bündeln: Normal entwickelte Kinder erwerben ihre Erstsprache stets bis zu einer „muttersprachlichen“ Kompetenz, sodass es schließlich in ihrem sprachlichen Output als Erwachsene in Abhängigkeit vom Sozialisations- und Gebrauchskontext wenig Variation gibt (vgl. Klein 2000). Obwohl Kinder allochthoner Minderheiten ihrer HL ebenfalls von früher Kindheit an ausgesetzt waren, bilden HL-Sprecher jedoch keine homogene Gruppe als Erwachsene, da ihr Spracherwerb auf massive Weise durch externe Faktoren beeinflusst wird (vgl. Montrul 2011a: 158). Mithilfe von Analysen ihres sprachlichen Wissens lässt sich folglich ideal die Stabilität von in der Kindheit erworbenen Strukturen in unterschiedlichen Kontexten untersuchen. Somit kann anhand dieser Sprechergruppe der Einfluss sprachexterner Faktoren sowohl auf sprachlichen Output und die Entwicklung alternativer Sprachstrukturen betrachtet als auch der Erhalt dieser Sprache im Allgemeinen unter unterschiedlichen Bedingungen nachgezeichnet werden (vgl. Montrul 2011a: 159). Polinsky beschreibt als große Herausforderungen der HL-Forschung ebenfalls folgende vier Felder:
(i) describing precisely what it means to be a heritage speaker and identifying the range of variation among different heritage languages and their speakers, (ii) using patterns in the structure