Bevölkerung mit Migrationshintergrund nach Staatsangehörigkeit und eigener Migrationserfahrung (vgl. Statistisches Bundesamt 2017b; eigene Darstellung)
Trotz der unzureichenden Informationslage über die in Deutschland gesprochenen allochthonen Minderheitensprachen können aufgrund der vorhandenen Einwanderungsstatistiken zumindest Russisch und Türkisch als die Sprachen mit den meisten Sprechern angenommen werden. Einen Hinweis auf die Größe der türkischsprachigen Gruppe in Deutschland liefert der Mikrozensus, der von ca. 2,9 Millionen Personen mit türkischem Migrationshintergrund, darunter 1,5 Millionen ohne eigene Migrationserfahrung und demnach mögliche HL-Sprecher, ausgeht. Exakte Zahlen vorzulegen, ist jedoch auch hier aus mehreren Gründen nicht möglich: Da der Beginn der türkischsprachigen Migration nach Deutschland auf das Jahr 1961, dem Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei, zurückdatiert werden kann, leben hier manche Familien bereits in dritter Generation. Diese Sprecher besitzen inzwischen entsprechend oft eine deutsche Staatsangehörigkeit und sind nicht mehr als Personen mit Migrationshintergrund in der Statistik geführt. Die Gruppe der Türkischsprecher kann folglich – Spracherhalt vorausgesetzt – weit mehr Personen umfassen.
Auf der anderen Seite ist die Türkei selbst ein vielsprachiger Staat mit zahlreichen autochthonen Minderheitensprachen wie z.B. Kurdisch, Arabisch oder Zaza (vgl. Brizić 2007: 104f.). Das bedeutet wiederum, dass ein türkischer Migrationshintergrund nicht automatisch auf die türkische Sprache verweisen muss. Darüber hinaus ist das Türkische eine autochthone Minderheitensprache in anderen Staaten wie Mazedonien, Kosovo, Bulgarien, Rumänien, Irak oder Griechenland. Personen mit einem Migrationshintergrund aus diesen Staaten könnten also ebenfalls türkischsprachig sein, was zusätzlich zur Unschärfe statistischer Angaben zur türkischsprachigen Bevölkerung in Deutschland beiträgt.
Für die russischsprachige Minderheit kann ebenfalls durch das Hinzuziehen des Mikrozensus und anderer Statistiken zumindest eine ungefähre Sprecherzahl angegeben werden. Hierbei stellen die (Spät-) Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion die größte Gruppe mit ca. 2,4 Millionen dar (vgl. Bundesverwaltungsamt 2015a). Die wichtigsten Herkunftsländer sind dabei Kasachstan, Russland, Kirgistan, Ukraine und Usbekistan (vgl. Bundesverwaltungsamt 2015b). Eine verhältnismäßig kleine Gruppe bilden die sog. Kontingentflüchtlinge, ca. 220.000 jüdische Flüchtlinge primär aus der Ukraine, Russland und den baltischen Staaten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005; Irwin 2009: 51). Die dritte Gruppe besteht aus russischsprachigen Migranten aus Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die nicht unter die ersten beiden Kategorien fallen. Hierzu zählen etwa 231.000 Russen, 134.000 Ukrainer, 46.000 Kasachen und 21.000 Weißrussen (vgl. Statistisches Bundesamt 2016).
Dass auch diese Zahlen reine Tendenzen darstellen, liegt, lässt man allgemeine Prozesse des Sprachverlusts außer Acht, an einem Spezifikum russischsprachiger Migration2: So gilt für alle Migranten aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion, dass Russisch nicht zwingend die in der Familie tatsächlich gesprochene Sprache sein muss. Insbesondere für die ältere Generation unter den Aussiedlern und Kontingentflüchtlingen kann es sich dabei um einen deutschen Dialekt bzw. um Jiddisch handeln (vgl. Irwin 2009: 47). Vor allem aber kann auch eine der Nationalsprachen des jeweiligen Staates statt des Russischen die Erstsprache der Migranten darstellen. Brehmer verweist in diesem Zusammenhang jedoch auf die Vormachtstellung des Russischen in allen Sowjetnachfolgestaaten und rechnet alle genannten Gruppen zur russischsprachigen Diaspora in Deutschland (vgl. Brehmer 2007: 166f.).
Die ungefähren Angaben zu migrationsbedingter Mehrsprachigkeit sowie zu den größten allochthonen Sprachgruppen in Deutschland können durch einige Forschungsarbeiten ergänzt werden, die punktuell in vereinzelten deutschen Großstädten die tatsächliche Sprachverwendung anhand von umfangreichen Spracherhebungen in Grundschulen untersuchten. Derzeit existieren Erhebungen für Hamburg (vgl. Fürstenau et al. 2003), Freiburg (vgl. Decker & Schnitzer 2012), Erfurt (vgl. Ahrenholz & Maak 2013) und Essen (vgl. Chlosta et al. 2003). Die Daten zeigen, dass je nach Kontext der Anteil mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler an der Gesamtschülerschaft zwischen 14 % und 40 % sowie die Anzahl der erhobenen Sprachen zwischen 36 und 122 schwankt (s. Tabelle 2).
Hamburg | Freiburg | Erfurt | Essen | ||||
Türkisch | 30% | Französisch | 13% | Russisch | 25% | Türkisch | 27% |
Polnisch | 10% | Englisch | 12% | Vietnamesisch | 10% | Arabisch | 14% |
Russisch | 10% | Russisch | 11% | Türkisch | 6% | Polnisch | 12% |
Englisch | 7% | Arabisch | 10% | Englisch | 6% | SBK | 5% |
Dari / Paschto | 6% | SBK3 | 6% | Arabisch | 5% | Russisch | 5% |
gesamt | 35% | gesamt | 40% | gesamt | 14% | gesamt | 28% |
Sprachen | 100 | Sprachen | 85 | Sprachen | 36 | Sprachen | 122 |
Tab. 2:
Die fünf am häufigsten gesprochenen Sprachen in Grundschulen in Hamburg, Freiburg, Erfurt, Essen im Vergleich (vgl. Ahrenholz & Maak 2013; Chlosta et al. 2003; Decker & Schnitzer 2012; Fürstenau et al. 2003; eigene Darstellung)
Bis auf die Angaben zum Englischen4 spiegeln diese Zahlen nicht nur die migrationsgeschichtlichen Zusammenhänge, sondern auch die lebensweltliche Mehrsprachigkeit in urbanen Räumen sehr gut wider. Sie bestätigen zum einen, dass Russisch und Türkisch bundesweit zu den am häufigsten gesprochenen Migrantensprachen gehören, zum anderen, dass auch die meisten hier genannten Sprachen im globalen Verständnis zentrale bis superzentrale Sprachen sind. Eine Unterstützung ihres Erhalts über Unterricht wäre somit durchaus möglich und nicht nur im Sinne eines wirtschaftlichen Vorteils für die Sprecher nutzbar. Die enorme Sprachenvielfalt sowie die hohen Anteile Mehrsprachiger in allen vier untersuchten Städten zeigen zudem, dass allochthone Minderheitensprachen trotz ihres in Deutschland geringeren Prestiges äußerst vital sind. Dieses vorhandene Potential zu nutzen und zu erhalten, stellt die Gesellschaft wie das Individuum vor eine zentrale Herausforderung.
2.5 Erkenntnisinteresse der Heritage-Language-Forschung
Losgelöst von der Relevanz der Zahlen zu Mehrsprachigkeit in Deutschland sowie von den oben diskutierten gesamtgesellschaftlichen und individualpsychologischen Vorteilen, die der Erhalt allochthoner Minderheitensprachen