Zum Wandel in der Bewertung regionaler Merkmale in Québec
Elmar Eggert (Kiel)
1 Einleitung
Die Frage, ob es eine Norm des kanadischen Französischen in Québec gibt oder geben soll, ist eng mit der Sprachkritik in Bezug auf diese sprachliche Varietät verbunden, denn diese Varietät steht in einem Zusammenhang mit weiteren frankophonen Varietäten, denen jeweils ein anderer Stellenwert zugewiesen wird.
Die Kritik am Sprachgebrauch und damit die Beurteilung von Sprechweisen bzw. Sprachen in einem bestimmten Gebiet erfolgt einerseits durch die Sprecher selbst, die entweder aufgrund von eigenen Erfahrungen oder nach Vorgaben von angesehenen Instanzen eine Einschätzung vornehmen und danach auch ihr sprachliches Handeln ausrichten. Andererseits sind es eben Institutionen oder Fachleute, welche die sprachliche Varietät als solche und auch deren einzelne sprachliche Varianten bewerten. Durch letzteres machen sie aus berufenem Munde eine Vorgabe zum konkreten Sprachgebrauch und tragen damit zur Stärkung einer Varietät bei, so dass Sprachkritiker als Norminstanz fungieren.
Auch das Französische in Québec ist einer konstanten, aber wechselnden Sprachkritik von unterschiedlichen Seiten unterworfen. Dabei stellt bereits die Erfassung der Varietät des français québécois (in Kurzform Québécois genannt) eine große Schwierigkeit dar, mit der nicht nur Studierende in Abschlussprüfungen konfrontiert werden. Zwar können leicht einige Merkmale im Bereich der Phonetik/Phonologie, der Morphosyntax und im Wortschatz genannt werden, welche das Québecer Französisch charakterisieren, doch reicht dies zur Abgrenzung nicht aus. Um den Status der verschiedenen Varietäten des Französischen, die in Québec Verwendung finden, erfassen zu können, sind diese anhand ihres Gebrauchs zu bestimmen und davon ausgehend von anderen Varietäten abzugrenzen.
Im Folgenden soll untersucht werden, wie die Besonderheiten der sprachlichen Realisierungen des Französischen in Québec zu verschiedenen Zeitpunkten gesehen worden sind und wie diese Bewertung sich im Laufe der Zeit gewandelt hat.1 Von den ersten Zeugnissen abweichender Sprechweisen von den in Europa bekannten frankophonen Varietäten bis hin zu einer ko-offiziellen Etablierung des Französischen in Kanada und in der heutigen Welt sind erhebliche Veränderungen in den Sprachbewertungen zu beobachten, doch das Gefühl einer zweifachen Bedrohung ist relativ konstant geblieben. Denn die politischen Führungen in Québec sahen und sehen das Französische in zweierlei Beziehung als gefährdet an: Die Bedrohung des Französischen sei einerseits durch den nationalen Kontext einer vom Englischen dominierten Gesellschaft und auch der internationalen (= größtenteils anglophon verhandelten) Welt gegeben, andererseits durch das europäische Französisch, da innerhalb der institutionalisierten Frankophonie der OIF die Pariser Varietät des Französischen ein unbestritten hohes Prestige habe, so dass es die anderen Varietäten nur in regionalen Kontexten zur Geltung kommen lasse. Diese doppelte Front wird seit der Mitte des 19. Jh. in der Sprachkritik thematisiert.
Bevor historische Sprachdebatten nachgezeichnet und erläutert werden, um diese mit Ansätzen der Sprachbewertung des 21. Jahrhunderts zu kontrastieren, soll jedoch anhand von einzelnen Kriterien ausgeführt werden, was allgemein eine Norm ausmacht, um auf dieser Grundlage bestimmen zu können, was eine Norm des kanadischen Französischen bedeuten könnte (Kap. 2).
Um eine Zuordnung der Normfrage auf eine konkrete Varietät zu ermöglichen, muss das komplexe Varietätensystem des französischen Sprachraums in Kanada betrachtet werden (Kap. 3). Den Hauptteil bilden die Erläuterungen zu den historischen Diskussionen zum sprachlichen Leitbild in Québec (Kap. 4). So wird nach einer Kontextualisierung die historische Sprachkritik der Querelle de Thomas Maguire analysiert, die das Québecer Französisch aus den wechselnden Perspektiven einer europäischen Norm und der notwendigen Anpassung an die kanadische Gesellschaft kritisiert (Kap. 4.2). Eine Weiterentwicklung der Sprachkritik und -beratung kann in institutionalisierter Form in der Société du parler français au Canada gesehen werden, die immer stärker eine eigenständige Sprache zu legitimieren versucht, wie aus den Zielen und Aktivitäten herauszulesen ist (Kap. 4.3). Vor dieser historischen Folie wird versucht, die aktuellen Einordnungen des Québecer Französisch herauszuarbeiten (Kap. 5). Dazu wird die Sprachkritik und Sprachberatung des Office québécois de la langue française (OQLF) zur Varietät des Québécois analysiert, des wichtigsten Akteurs der Québecer Sprachpolitik, welche den Sprachgebrauch in der Region untersucht, die Sprachverwendung fördert und dazu eine Sprachberatung anbietet (Kap. 5.1). Aus dem Vergleich aktueller mit früheren Veröffentlichungen des OQLF ist ein Wandel in der Beurteilung des Québécois als Normvarietät abzulesen, welche nun stärker die einzelnen regionalen und kulturellen Ausprägungen zu fördern sucht (Kap. 5.2). Ein Vorschlag zur Erklärung dieser divergenten Sprachbewertung (und auch Sprachpraxis) schließt die Ausführungen ab (Kap. 6).
2 Die Rolle der Norm für die Sprachkritik
Eine Norm ist eine Vorgabe für einen bestimmten Bereich. Ausgehend vom lat. norma mit der Bedeutung ‚Winkel, Winkelmaß‘ hat sich metonymisch die Bedeutung ‚Richtschnur, Regel‘ (Stowasser 1980 s.v. norma) herausgebildet, von der sich das Adjektiv normalis mit der Bedeutung ‚das Normale als das der Regel entsprechende‘ ableiten lässt (Rey-Debove 2003, 1–2). Eine Norm ist stets ein soziales Phänomen, das eine Orientierung der Ausprägung eines Gegenstands an einem Maß ermöglicht, um so die Bewertung von Gegenständen oder Sachverhalten auf eine vergleichende Grundlage zu stellen. Das Ziel ist also eine einheitliche Ausrichtung aller Elemente eines Bereichs auf einen Wert, um so eine Vereinheitlichung bzw. eine Stabilisierung der Ausprägungen um einen Wert herum zu erreichen. Damit gilt eine Norm in logischer Umkehr als Bewertungsmaßstab für Abweichungen in diesem Bereich.2
Da eine Norm bereichsabhängig ist und sozial verankert werden muss, gibt es üblicherweise nicht nur eine einzige Norm, sondern oft mehrere erklärte Normen, so dass meist von Normen im Plural gesprochen wird (Bartsch 1987, 155). Gegenstand der Normausrichtung ist meist etwas Geschaffenes, aber es können auch natürliche Dinge oder soziale Muster einer Norm unterworfen werden. Die Gültigkeit muss erklärt und der Gültigkeitsbereich festgelegt werden, meist von der Gesellschaft oder einer sie ausgebenden Institution, die sich mit dem Bereich befasst.3
Der Prozess der Normgebung umfasst mehrere Phasen, vom Bewusstwerden für die Notwendigkeit von Normen über die Wege der Ermittlung von Normen, ihrer Formulierung und Verkündung bis hin zur Durchsetzung, Rezeption und auch Wirkung (bzw. Nicht-Wirkung). Es gibt verschiedene Arten von Normen, die z.B. durch den Grad der Verbindlichkeit klassifiziert werden (grobe Zielvorgaben gegenüber obligatorisch gesetzten Werten). Die soziale Vorgabe kann stark sein (Pflicht, Verbot, Erlaubnis) oder schwach wirken (Empfehlung, Rat, Freigabe). Auch die Art der Konstituierung einer Norm oder eines Normwerts wirkt differenzierend, so werden präskriptive und deskriptive Normen unterschieden. Eine präskriptive Norm liefert Vorgaben für einen sozial akzeptierten Sprachgebrauch, in deskriptiver Perspektive wird ein Normalwert durch das häufige Vorkommen und somit als statistischer Durchschnitt ermittelt, wodurch eine „Normalität“ dieses üblichen Werts angenommen wird, auf welche die Ausrichtung erfolgen kann, aber meist nicht muss (Bartsch 1987, 157–163).
In Bezug auf Sprache ist demzufolge zu unterscheiden, auf welchen Bereich sich eine Norm bezieht und wie diese sozial zur Norm erklärt wird, v.a. wer diese Vorgabe trifft und wie diese durchgesetzt und verankert wird. Nach Koch (1988, 331) sind Normen für die verschiedenen Varietäten einer Sprache zu unterscheiden, also Normen der Schriftsprache oder Sprechsprache bzw. sind es diastratische, diaphasische oder diatopische Normen, die wirken können.
Bei sprachlichen Normen ist weiterhin zu unterscheiden zwischen der Ebene der Varietät und der Ebene der Varianten. Zielpunkt einer sprachlichen Norm ist eine sprachliche Varietät, der ein sozialer Wert z.B. als offiziell anerkannte Sprache (langue) zugeschrieben wird. Da diese sich nur in konkreter Realisierung (parole) manifestiert, wird sie durch innersprachliche Merkmale bestimmt, auf die der soziale Wert der Varietät übertragen ist. Diese innersprachlichen Varianten konstituieren in ihrer Gesamtheit dann die sprachliche Norm-Varietät.
Die präskriptiven Normen werden