Deskriptive Normen in der Sprache werden nach Sinner (2014, 107) durch den „sozial dominierenden Gebrauch“ bestimmt. Diese Gebrauchsnormen sind also die üblichen Realisierungen des Systems, neben anderen möglichen und weniger frequenten Realisierungen. Die Variation der Sprache und solche deskriptiven Normen können von den Sprechern wahrgenommen und als Richtschnur angesehen werden, auf die sie sich ausrichten, z.B. bei Innovationen, die sich ausbreiten, hochfrequent und schließlich sozial anerkannt werden, so dass sie durch einen Wörterbucheintrag sanktioniert werden. Die tatsächliche Wirkung von Normen auf die Sprecher ist dabei zu unterscheiden von den Intentionen der Norm.
Für die Sprecher wirken präskriptive Normen, z.B. durch die Schule, und deskriptive Normen durch die Kommunikationserfahrung zusammen. Nach Ansicht von Sprachplanern sollte es für die Sprecher wichtig sein zu wissen, in welchem Bereich eine sprachliche Vorgabe einer Norm vorhanden ist und welche konkreten Vorgaben auf der Ebene der Varianten dabei zu berücksichtigen sind. In der Praxis hingegen ist eine sprachliche Norm das, was Sprecher für angebracht halten oder wovon sie glauben, dass es von ihnen erwartet würde. Sie gehen also von einer Idealnorm der Standardsprache aus, d.h. sie haben in ihrer Gesellschaft einen Regelkomplex verinnerlicht, der üblicherweise nicht mit den existierenden Varietäten der Sprache übereinstimmt. Sie fragen sich, welcher Sprachgebrauch gut und richtig ist. ‚Falsch‘ und ‚richtig‘ sind dabei Kategorien, die sich sowohl auf die Grammatikalität des Systems beziehen können, also angeben, ob ein grammatikalischer Fehler vorliegt, als auch auf die Bewertung der sprachlichen Äußerung in Bezug auf eine Norm, also ob der Gebrauch dieses sprachlichen Elements sozial adäquat ist. Dabei wird die Abweichung von einer Norm beurteilt: z.B. kann ein Wort als nicht korrekt gewertet werden, das zwar als diatopische Variante linguistisch beschrieben und in einer bestimmten Region hochfrequent ist, aber im sozialen Kontext einer offiziellen Sprachäußerung einer anderen Region eine konträre Bewertung erfährt.
Eine solche Normdiskussion über eine idealisierte, „reine“ Sprachform zeigt schnell Bestrebungen zum Purismus in der Sprache auf. Auch in Québec wurden und werden Debatten von Sprachberatern, Gelehrten und interessierten Laien um eine gute Sprachverwendung, die der angenommenen Idealnorm entspricht, geführt. Die Frage nach der Norm bezieht sich dabei auf die Eingrenzung der zugrunde zu legenden Varietät. Diese Diskussion wird im heutigen Québec von interessierten Laien und Sprachinstitutionen geführt, wobei sich die Ansichten grob in zwei Lager teilen, welche sich entweder an einer auszubauenden, internen Varietät des Französischen in Québec oder an prestigeträchtigen, außerhalb Québecs zu verortenden Varietäten orientieren: die endogénistes (auch aménagistes genannt) und die exogénistes (oder internationalisants, vgl. Pöll 2009; Meney 2010; Sénécal 2010; Reutner 2009, 90). Vielen Beiträgen der Anhänger einer endogenen Norm ist nicht klar zu entnehmen, welche Varietät des Französischen in Québec zur Norm erklärt werden soll, denn es gibt mehrere diatopisch mehr oder weniger stark markierte Québecer Varietäten des Französischen, zu denen ein français québécois als Normvarietät in Québec abzugrenzen ist. Auf diese Varietät sind die allgemeinen Kriterien einer Norm zu beziehen.
3 Das Québecer Französisch und die Normfrage
Wenn die alloglotte und anglophone Minderheitsbevölkerung für die aktuelle Betrachtung ausgeklammert wird, liegt in Québec (früher wie heute) ein französischsprachiger Varietätenraum vor, der durch die Einwanderung von Siedlern aus Frankreich mit ihren verschiedenen regionalen Varietäten gekennzeichnet ist. Ohne die historische Entwicklung nachzeichnen zu wollen, kann festgehalten werden, dass die Sprecher in Québec immer stärker dazu übergingen, das Standardfranzösische zu sprechen, wenngleich mit unterschiedlicher Kompetenz und in seiner ganzen Variationsbreite. Auch im heutigen Québec ist das Französische als Muttersprache von 80 % der Bevölkerung in den jeweiligen diastratischen und diaphasischen Varietäten vorhanden, natürlich auch jeweils in diatopischen Ausprägungen. Die Kommunikationssituationen reichen von extremer Mündlichkeit im intimen, privaten Bereich bis hin zur extremen Distanzsprache in hochformellen oder fachlich-wissenschaftlichen bzw. administrativen Situationen. Alle sind zur historischen Sprache des Französischen zu rechnen, unterscheiden sich aber in einzelnen oder mehreren Merkmalen von entsprechenden Varietäten in Frankreich oder anderen frankophonen Regionen.4
In formellen Situationen ist das Französische in Québec im Verhältnis zur europäischen, Paris-zentrierten Varietät weniger stark markiert, in informellen viel stärker, aber in fast allen Äußerungen sind einzelne Merkmale festzustellen, welche die meisten Frankokanadier teilen. Dies ist v.a. in der Aussprache gegeben. Zudem sind einige Kanadismen in allen frankophonen Varietäten sehr verbreitet, welche jedoch in bestimmten Diskursbereichen vermieden und ersetzt werden, in denen ein regionaler Bezug keine Relevanz haben soll. Die Varietät der Québecer Umgangssprache weicht also stark von Äußerungen in offiziellen Bereichen ab und ist für Außenstehende teils schwer verständlich. Der umgangssprachliche Bereich ist am stärksten von diaphasischen Merkmalen geprägt, die auch regional oder sogar lokal diatopisch einzugrenzen sind. Daher unterscheiden sich diese auch innerhalb des Sprachgebiets von anderen Umgangssprachen.
Solche Merkmale könnten dann als Varianten der Québecer Norm gewertet werden. Aber die im Bereich der mündlichen Nähesprache angesiedelten Sprachformen kommen gerade nicht für eine Normierung in Frage, denn eine Normierung widerspräche dem spontanen Charakter der mündlichen Sprechsprache eines Gebiets. Auch das joual, das häufig als besonders charakteristische Varietät des Québécois angesehen wird, ist von einer Normierung auszuschließen, denn es ist der „im Gefolge der Landflucht und Industrialisierung entstandene, von Anglizismen affizierte populäre Sprachgebrauch der unteren Schichten“ (Pöll 1998, 68).
Das zeigt das Dilemma der Normierung einer eigenen Québecer Varietät: Je stärker der Unterschied der spezifischen Merkmale des Québécois zum europäischen Französisch ist, desto mehr Gewicht hätten diese als Argumente für eine Eigenständigkeit dieser sprachlichen Varietät, aber desto stärker sind sie auch auf den gesprochenen und informellen Nähebereich beschränkt, der sich am wenigsten als Träger prestigeträchtiger Varianten für eine Norm eignet. Denn von einem idealen Standpunkt aus wäre die Normierung sinnvoll für eine Varietät, die diatopisch auf Québec eingegrenzt werden kann, die aber diastratisch z.B. auf die Gruppe der Staatsdiener, Beamten oder Lehrer zu beziehen ist und die diaphasisch auf die Situationen der öffentlichen Kommunikation in staatlichen oder gesellschaftlich-relevanten Institutionen oder daran angelehnte und vergleichbare kommunikative Zwecke (öffentliche Kommunikation in Unternehmen) beschränkt wird.
Welches sind nun die Orientierungspunkte für eine Norm des Französischen in Québec gewesen? Die Diskussion über eine Leitvarietät des „guten Französisch“ in Québec ist im Zusammenhang mit der Frage nach dem sprachlichen Leitbild in Frankreich zu betrachten.
4 Die historischen Diskussionen zum sprachlichen Leitbild in Québec
4.1 Wandel des sprachlichen Leitbilds im 18./19. Jh.
Das sprachliche Leitbild der Frankophonen in Québec war bis über die Französische Revolution hinaus der bon usage des Ancien Régime. Dieses sprachliche Vorbild war jedoch durch die Französische Revolution unter den Franzosen abgewertet und durch das neue Modell der Sprache der Pariser Bürgerschaft abgelöst worden. Diese Veränderung im Prestige der Leitvarietät ging einher mit der neuen Schulpolitik der Französischen Revolution, welche zur Folge hatte, dass sich die Schriftkenntnisse ausweiteten und die Varietät des geschriebenen Französisch Vorrang vor mündlichen Varietäten bekam. Gleichzeitig herrschte eine sehr rigide Normvorstellung, wie an mehreren Grammatiken der Zeit zu erkennen ist (Noël/Chapsal 1823; Rotgès 1896). Dadurch wurden auch Aussprachegewohnheiten, die mit der Sprache im Ancien Régime verbunden wurden, als veraltet abgewertet und durch diejenigen der nun herrschenden Schicht der Bourgeoisie abgelöst, die im