Ein Grenzraum selber ist keine Grenze, vielmehr hat er Grenzen, zwischen denen sich Sachverhalte überlappen und durchdringen. Er wirkt dadurch wie ein Rand; denn Ränder sind diffus und fransen leicht aus, und man weiß bei ihnen nicht immer ganz exakt, ob man noch bei diesem oder schon bei jenem ist. Dagegen bezeichnet eine Grenze immer einen harten und eindeutigen Schnitt.36
In der Dynamik des Grenzraums, der sich nicht mit geopolitischen Markierungen deckt, etabliert sich historisch wie literarisch der so genannte Kleine Grenzverkehr.37 Die Brückenköpfe, an denen in Horváths Stück die beiden Grenzorgane ihres Amtes walten und die einer „Baracke“ bzw. einer „halbverfallenen Ritterburg“ gleichen, liegen „etwas abseits“ in einer idyllischen Gegend mit „schöne[n] Wolken“.38 Die hinter den Brückenköpfen liegenden Staaten sind wie ihre Regierungsrepräsentanten namenlos und zeitenthoben. Die unspezifische und reduzierte Eigenart von Zeit und Raum hebt den experimentellen Charakter des Spiels hervor. Die Zuschauer beobachten im übersichtlichen Rahmen der aristotelischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung einen Fall, den der Protagonist selber „interessant“ findet und verfolgt.39 Das Thema des Stückes – Heimat- und Staatenlosigkeit – verknüpft individuelle, subjektive und kollektive, politische Identität ex negativo und wird durch das – exil- bzw. migrationsrelevante – Motiv des ‚fehlenden Ausweis‘ konkretisiert. Der verlangte „Grenzschein“40 bedingt die „Rede- und Handlungsabläufe des ganzen Stücks“.41 Am Ende erhält der Protagonist keinen regulären Pass, der das Pendant des ‚fehlenden Ausweis‘ wäre, sondern ihm öffnet sich aufgrund einer „außertourliche[n] und außerinstanzliche[n] ministerielle[n] Verfügung“ die Grenze.42 Die einmalige Einreiseerlaubnis verdankt er einer „menschlichen Tat“ des Regierungschefs, sie ist kein politischer, sondern ein humaner Akt.43 Weitere Motive dramatisieren den identitätsphilosophisch-politischen Kern des Stücks: Das Motiv der Grenze hat eine räumliche Dimension, die die Unterscheidung von „dort“ und „hier“ markiert, eine normative Dimension für die Konstruktion Staat durch Gesetz, von dem abzuweichen „unmöglich“44 ist und dem das Individuum unterworfen ist: „(Konstantin) Gesetz ist Gesetz. / (Ferdinand Havlicek) Aber solche Gesetze sind doch unmenschlich … / (Konstantin) Im allgemeinen Staatengetriebe wird gar oft ein persönliches Schicksal zerrieben. / (Havlicek) Schad.“45 Die identifikatorische Dimension der Grenze im Sinne der Abgrenzung wirkt im sozialen Gefüge von (Nicht)Zugehörigkeit, von aufgewertetem „wir“ und abgewerteten „Feinde[n]“46 und ist paradox, „da sich der Mensch ihrer [der Identität, H.K.] nicht anders versichern kann als im Rückgriff auf andere“:47 Das Grenzorgan Thomas Szamek hält in der ersten Szene fest, „daß wir da aufhören und dort drüben ein anderer Staat beginnt“.48 Position und Person und Tat treten im Handlungsverlauf auseinander: Das Grenzorgan Konstantin nennt die Grenze eine „blöde Grenz“49 und „privat“ tue ihm der Staatenlose leid. Der mächtige, aber nicht betroffene Regierungschef nennt die Grenze eine „Plage“:50 „(X) Wir leiden unter unseren Grenzen.“51 Im „Finale mit Gesang“,52 einem langen musikalischen Epilog, wird nicht etwa die Grenze, sondern ihr Begriff semantisch geöffnet,53 die Figuren reflektieren Grenze als Begrenzung, sie übertragen die Begrenztheit des Lebens auf die notwendige Zügelung der Triebnatur, die sozial sinnvolle Einschränkung der Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Sie stimmen – im doppelten Sinn – ein in Grenze als Natur, als Kultur, als Ordnung und damit als Glück. Der aufbegehrende Protagonist passt sich an: „(Havlicek) Ich seh schon ein, daß es muß geben / Gar manche Grenz, damit wir leben.“54
Von der normativen Dimension der ‚Grenze‘ unterscheidet sich die formelle Dimension des Motivs Heimat dann, wenn sie als Geburtsort aufgefasst wird – „(Mrschitzka, ein Gendarm) Wohin man geboren ist, dorthin ist man zuständig!“55 Die identifikatorische Dimension von Heimat wird, abseits der Übereinstimmung mit nationaler Herkunft, aus kultureller Erfahrung gewonnen. Dem Protagonisten ist die „Heimat“, die er als Kind verließ, fremd: „(Havlicek) Ich war überhaupt noch nie drüben –“,56 der Staat, der ihn als Fremden ausweist, ist ihm im Verlauf seines Lebens vertraut geworden: „(Havlicek) Wissens, es schaut nämlich einfacher aus, als wie es ist, wenn man so weg muß aus einem Land, in dem man sich so eingelebt hat, […] es hängen doch so viel Sachen an einem, an denen man hängt.“57 Cornelia Krauss hat Heimat eine „existentielle Metapher“ im Spätwerk Horváths genannt.58 In der Tat bekennt sich der Schriftsteller durch die zu Empathie fähige Figur Eva zu einem Heimat-Begriff als Erfahrung von Identität und Alterität: „(Eva) So ohne Heimat möchte ich nicht sein. Überall fremd, überall anders –“.59 Eine personifizierte Heimat rahmt refrainartig das „Finale mit Gesang“: „O Heimat, die ich nicht kennen tu / Bring mir den Frieden, bring mir die Ruh!“60 Havliceks Evokation von Heimat ruft deren aus dem 19. Jahrhundert stammende kulturpolitische Konstruktion und ästhetische Gestalt auf – Mondschein, (Todes-)Sehnsucht („O Heimat, wie bist du so schön / In dir möchte ich sein und vergehn!“),61 Mythos („voll Märchen und voll Sagen“),62 in der Vorstellungswelt präsent als „Ansichtskarte“,63 also nicht als individuelle Wahrnehmung, sondern als geronnenes, sentimentales Bild. Trotz der signifikanten Kombination der Signalwörter entbehrt diese Heimatvorstellung der mit Heinrich Heine und dem Horváth der Zwischenkriegszeit assoziierten ironischen Distanzierung. Noch 1929 hatte Horváth seine Heimatlosigkeit begrüßt, denn sie befreie ihn von „unnötiger Sentimentalität“.64 Der Exilkontext des 19. wie des 20. Jahrhunderts (wie überhaupt) kündigt Heimat dem zum Objekt gewordenen Subjekt auf, die räumliche Distanzierung geht mit einer ideellen Annäherung einher.
Andere Motive beleben das Thema der Heimat- und Staatenlosigkeit. Die Motive Täuschung und Schein und Sein kommen ins Spiel mit einem gefälschten Pass65 und dem Incognito-Auftritt der Regierungschefs. Der erlaubt Verwirrung durch Verwechslung, wenn X Havlicek auf der Brücke im Dunklen für den anderen Regierungschef Y hält oder wenn Rauschgift-Schmuggler als harmlose Reisende angesehen werden. Indem sie ihre Absichten betrügerisch durch Verkleidung verbergen, bilden sie den Kontrast zum offen zutage liegenden Fall des Protagonisten und dessen authentischer Absicht. Das aus dem Unterhaltungsgenre stammende Element des Kriminellen, des Diebs oder Schmugglers zieht dem Geschehen das Spannungs-Motiv von Jäger und Gejagtem ein, auch der Protagonist ist ein Gejagter, und mit ihm bekommt die als harmloses Kinderspiel von „Räuber und Gendarm“66 gespiegelte Kriminalhandlung eine politische Dimension. Spätestens hier muss auf die zeitgenössische Filmproduktion verwiesen werden: Der politisch aufgeladene Kriminalfilm ist ein populäres Genre des Weimarer Kinos. 1933 kommt ein Schmuggler-Krimi in die Filmtheater mit dem Titel SCHÜSSE AN DER GRENZE.67 Aus Horváths allein finanziell motivierten Verbindungen mit der Filmbranche 1933–1934 sind für den Kontext Hin und her folgende Aspekte interessant68: In einem Brief an den Filmdramaturgen Rudolph S. Joseph vom 30. Oktober 1933 bezeichnet er die Posse mit Gesang als „höhere[n] Blödsinn“ und „Geblödel“,69 die erstmalige Verwendung von Liedeinlagen (Komposition: Hans Gál) ist ein Tribut an das beliebte und erfolgreiche Genre der Tonfilmoperette, an dem Horváth im Falle der Nestroy-Verfilmung DAS EINMALEINS DER LIEBE70 beteiligt war, sein Notizbuch verzeichnet fünf Filmprojekte, darunter eines mit dem Titel „Zwischen den Grenzen“.71
Die Grenzorgane Thomas Szamek und Konstantin und der Staatenlose Ferdinand Havlicek verkörpern Jäger und Gejagten. Die Grenzorgane sichern die Macht der personifizierten und mit den Regierungschefs der Staaten konkurrierenden bzw. ihnen übergeordneten Grenze („auf den sich die Grenz verlassen kann“).72 Ihre Loyalität („unser Staat“, „unsere Wohlfahrtspflegerei“)73 gefährden Langeweile und schlechte Bezahlung,74 ihre