Und gefährdet durch die politische Wirklichkeit, die „Realität der Grenzziehung und Grenzposten auf dieser Welt.“98 Vor dem Hintergrund globaler Migration und internationaler bzw. nationaler Asylpolitik haben deutschsprachige Bühnen Horváths Stück Hin und her in der Perspektive von Aktualität und Parallelität entdeckt. Seit 2006 lassen sich acht Inszenierungen in Regensburg (2006), Wien (2009, 2016), München (2010), Hall in Tirol (2015), Frankfurt am Main (2015), Freiburg (2016) und Braunschweig (2017) verzeichnen.99 Für alle gibt es „kaum ein zeitgemäßeres Stück“ für ein „drängendes“,100 „brandaktuelles Thema“,101 ein Stück von „geradezu beschämende[r] Aktualität“,102 das deswegen „mühelos den Sprung in unsere Zeit schafft.“103 Die Theater verstehen das Stück als „Spiegel“,104 sie lesen es als eine „knochentrockene realistische Studie“.105 „Die erschreckenden Parallelen zu unserer Gegenwart […] lassen nicht lange auf sich warten, zu präsent sind die Bilder in den Medien und zum Teil bereits vor unserer Haustür.“106 Um „die Gegenwart [zu] beleuchten und womöglich Unruhe [zu] stiften“ (Hazel Rosenstrauch), haben die Bühnen Horváths exil- und migrationsrelevantes Thema in einem identifikatorischen Ansatz von Studenten aus sechs Ländern spielen lassen (Theater babylon, Universität Regensburg), unterhaltend in der Tradition des Volksstücks gegeben (Freiburg, Hall in Tirol), intertextuell geöffnet auf Jean Paul und Elfriede Jelinek (Schauspiel Frankfurt am Main), aus einem kritischen Genreansatz das Groteske fokussiert (Akademietheater München) und in einem intermedialen Verfahren moderne musikalische Kompositionen hinzugefügt (Schlüterwerke, Wien). Von einem wirkungsästhetischen Ansatz der Verfremdung durch Kostümstrategien gehen die Wiener und Braunschweiger Inszenierungen aus, die Schlüterwerke setzen ihn um mit balinesischen Masken; in Braunschweig arbeitet man mit Wolfsfellen, assoziiert die wölfische Natur des Menschen und räumt in den symbolisch aufgeladenen Bildern von Wald und Wolf, die sie für ihre Versuchsanordnung aufrufen, mit der Vorstellung von der Natur als Gegenwelt auf.
Das Potential literarischer Grenzerfahrung, das in Hin und her steckt, hat Steven Spielberg filmisch aktualisiert. Seinem Film TERMINAL (2004) liegt wie bei Horváth eine authentische Begebenheit zugrunde, auch hier verknüpft sich der Plot mit dem Genre der Komödie. Spielberg griff den Fall des Iraners Mehran Karimi Nasseri auf, der seit 1988 mehr als sechs Jahre auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle gelebt hat. Der amerikanische Regisseur erzählt den Fall im Kontext des Narrativs von den Vereinigten Staaten als Einwandererland und vor dem Hintergrund von „9/11“. Er interpretiert den Fall als unterhaltsame Fabel.
Ödön von Horváths komisches und unheimliches „zeitloses Zeitstück“ ist ein hochartifizieller Text über den Begriff ‚Grenze‘. Sein Potential literarischer Grenzerfahrung lässt sich so umreißen:
Politische Grenzen sind mit Jürgen Osterhammel „physische Vergegenständlichung des Staates und Orte der symbolischen und materiellen Verdichtung von Herrschaft.“107 Globale Migration verflüssigt den Begriff der Grenze, hebt Grenze als Indiz und Zeichen der Territorialisierung von Macht auf. Im Spiegel transnationaler Grenzforschungsprojekte, die zum Beispiel in Berlin und Frankfurt an der Oder etabliert sind,108 dient Horváths Stück diesseits des slapstick-Elements des „hin und her“, der Konstruktion einer Welt und der Empörung, also diesseits von Komödie, Fiktion und Moral, als Muster politischer Methoden und als Handlungsmodell.
Der Protagonist ist eine ‚displaced person‘, er ist ein Flüchtling nach der Definition des „Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge“, das die UN-Sonderkonferenz 1951 beschloss. Die Auffassung der Genfer Flüchtlingskonvention, die den passiven Objektstatus betont, wird in der Kritischen Migrationsforschung durch den Begriff des Migranten als Akteur abgelöst. Kristina Schulz (Bern) und Irene Messinger (Wien) sprechen von „Subjektivierung der Migration“, die an die Stelle der Viktimisierung (Opfer) und der Kriminalisierung (Täter) trete. MigrantInnen als aktive, handelnde Subjekte zu begreifen, heißt, nach ihren „sozialen Praktiken in und zwischen Herkunfts- und Zielländern“ zu fragen.109 Horváths handlungsfähiger Protagonist kann hierfür als Typus gelten.
Das Stück bietet exemplarische Lösungsstrategien bzw. Lösungen und alternative Deutungen an:
Es trennt den Begriff ‚Heimat‘ von (ethnischer) Herkunft (Geburtsort) und spricht stattdessen von kultureller Erfahrung und Praxis.110
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