Die Affinität des Schriftstellers zu Italien und Frankreich verleiht seinem Werk eine weitere Nuance der Grenzüberschreitung. Bereits seine frühen Texte kontrastieren südliche Lebensart und Temperament mit dem nördlichen, deutschen Wesen und Charakter. Dieses Moment wurde in den Ausführungen zur Novelle Heldin bereits erwähnt und trägt konzeptionell den Italien-Roman Zwischen den Rassen (1907), in dem sich eindeutige Bezüge zu seinen brasilianischen Wurzeln mütterlicherseits finden. Mit der französischen Literatur hat er sich in zahlreichen Essays beschäftigt. Die Texte der 1931 erschienenen Sammlung Geist und Tat sind von dem Ideal getragen, die Grenze zwischen Denken und sozialer bzw. politischer Wirkmächtigkeit aufzulösen. In französischen Autoren wie Zola, Flaubert oder Anatole France, ihrem Engagement und ihrer Rezeption, sah Mann diese Synthese nahezu idealtypisch verwirklicht.
Dieser zentrale Ansatz sowie seine Liebe zu Frankreich und südlicher Lebensart finden Ausdruck in seinem opus magnum, den beiden voluminösen Romanen (Die Jugend des Königs Henri Quatre, 1935; Die Vollendung des Königs Henri Quatre, 1938) um den französischen König Heinrich IV. Das im Exil entstandene, vielschichtige historische Epos beschwört am Beispiel des guten Königs das Ideal von „Geist und Tat“, zugleich zeigt es die Grenzen seiner Verwirklichung auf. Der Text verweist auf die Historie und spiegelt zugleich die Gegenwart, stellt fundamentale herrschaftstheoretische und -soziologische Fragen, lässt auch Lebensgefühl, Autobiografisches und Wunschdenken des Autors einfließen. Sein Bruder Thomas schrieb in einem Brief vom 2. März 1939: „Résumé Deines Lebens und Deiner Persönlichkeit.“24 Schauplatz ist das Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts im Zeitalter der Glaubenskriege, das Züge einer Heterotopie in der Vergangenheit trägt. In diesem Erzähl-Chronotopos wird das Leben Heinrichs IV. geschildert. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Grenzen in der räumlichen Strukturierung des Romans signifikant sind und welche übertragenen Bedeutungen der Begriff der Grenze im Roman annimmt.
Als Summe des Lebens und Werks seines Autors finden sich in den beiden Romanen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien zu den hier aufgezeigten Aspekten, die in der Komplexität der Texte unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Auffallend ist, dass der Begriff der Grenze in den beiden Romanen an zentralen Textstellen wörtlich erscheint.
Als Sohn des katholischen Königs von Navarra Anton von Bourbon und der protestantischen Jeanne d’Abret personifiziert Heinrich IV. das heikle Verhältnis der Konfessionen im damaligen Frankreich. Sein Leben ist von zahlreichen Wechseln zwischen katholischem und protestantischem Bekenntnis gezeichnet. Im Roman symbolisiert eine Szene aus der Kindheit Heinrichs antizipierend, wie er schon sehr früh in dieses Spannungsfeld gerät:
[E]inige protestantische Herren erschienen darin und verkündeten, der Admiral Coligny sei im Hause, […]. Der König von Navarra sogar neigte den Kopf vor diesem alten Mann und damit auch vor der Partei, die er führte. […]
Der zweite der Pastoren stimmte einen Choral an. […] Denn wo sangen sie so laut, wo behaupteten sie dreist ihre Sache? Im eigenen Hause der Könige von Frankreich! Sie konnten es wagen, sie wagten es!
Coligny erhob mit beiden Armen den Prinzen von Navarra [Henri] über alle Köpfe, er ließ ihn dort einatmen für sein Leben, was vorging, was diese alle waren. […]
Dies alles waren recht gefährliche Überschreitungen der erlaubten Grenzen, Jeanne sah es nachher von selbst ein, ihr Gatte brauchte sie nicht lange zu warnen.25
Ein merkwürdiger Besucher, der sich am Schluss der Szene als der legendäre Astrologe Nostradamus entpuppt, sieht Heinrich visionär als kommenden König und Einheitsstifter:
Dies ist ein Kind, es ist das Unerfüllte, Grenzenlose, es hat, so schwach es ist, mehr Macht und Gewalt als alle, die schon gelebt haben. Es verspricht Leben und ist daher groß. Es ist das allein Große. Welch ein tapferes Gesicht! sieht er, als Henri grade am meisten Furcht hat.
„Er ist es!“ spricht er laut […].26
Die von König Karl IX. angeregte, der Aussöhnung dienende Hochzeit seiner katholischen Schwester mit dem Protestanten Heinrich gerät zu einem spannungsvollen Zusammentreffen zwischen Katholiken und Hugenotten:
[D]ie Katholiken drängten die Protestanten bis gegen die Ränder des Saales. An der unsichtbaren Grenze aber, die um die Königin gezogen war, ballten sie sich selbst zu einem Haufen, der sehr wachsam schien.27
Henri, der die Hände frei bekam, sah sich um. Den Haufen an der unsichtbaren Grenze fand er verändert, nicht mehr nur neugierig oder wachsam.28
Die eigentlichen geografischen Grenzen Frankreichs spielen in den Romanen auch eine Rolle, sie werden häufiger explizit erwähnt, meist im Zusammenhang mit Konflikten, Bedrohungen von außen. Ihre Nennung signalisiert Gefahr und Unruhe: „Schon die Reise an die Grenze hatte etwas von Unordnung.“29 Zugleich wird auf die Differenz zwischen territorialen Grenzen und universellen menschlichen Werten verwiesen: „Der Glaube kannte keine Grenzen von Land und Sprache, und wer für die Wahrheit ist, der ist mein Bruder und Freund.“30
Heinrich wird als guter König geschildert, charakterisiert als Überwinder hergebrachter Grenzen: „Mein Reich beginnt an der Grenze, wo die Menschen weniger dumm und nicht mehr ganz unglücklich sind. Mit Gott, erobern wir’s!“31 oder „Henri hatte niemals so viele Bettler gezählt; seine Lage machte ihn hellsichtig, die Grenze zwischen dem Übermut und Elend wurde auf einmal furchtbar schroff.“32
Auch die Verteidigung seines Reiches impliziert mehr als die Verteidigung der Territorialität, die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Grenze wird deutlich:
Eine regelmäßige Mehrheit findet zusammen, sie folgt dem ungewöhnlichen König. Läßt es nicht hierbei, sondern eilt voraus. Wo er auftritt, wird gerufen: „An die Grenze!“ […] An die Grenze, um den Staat zu verteidigen, wie du ihn gemacht hast.33
Am Ende der Vollendung, in der Ansprache des Henri Quatre, „gehalten von einer Wolke herab“, zieht der König selbst posthum – nach seinem letzten Grenzübertritt – Bilanz seines Königtums:
Ein König, den man „groß“ genannt hat – und sicherlich ahnte man nicht, wie treffend der Ausdruck war –, gewahrt zuguterletzt den ewigen Frieden und eine Gesellschaft christlicher Prägung. Womit er die Grenzen seiner Macht und selbst seines Lebens überschreitet. Größe? Aber sie ist nicht von dieser Welt; man muss gelebt haben und dahingeschieden sein.34
Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited
Zur Aktualität literarischer Grenzerfahrung aus dem Exil
Heike Klapdor, Berlin
„Geh’ sein’s fesch und schreiben’s ein zeitloses Zeitstück.“1 Dazu fordert der Direktor den Dramatiker auf im ersten Akt eines Zeitstück[s] in drei Akten. Ödön von Horváth hatte dieses Dramolett Ohne Titel 1933 in einer Sondernummer der Literarischen Welt über das „Theater von heute“ publiziert. Im zweiten Akt fordern ein männlicher und ein weiblicher Star Szenen, in denen sie ihre „Limusinen“ vorfahren können, im dritten findet ein Kritiker das Stück „nicht unbegabt“, aber „zwa Limusinen […] zuviel“. Dem Dramatiker fehlen zu Beginn im Theaterbüro nur noch der Schluss seines Stückes und ein Titel, den Anfang und die Mitte arbeite er gerade um, und eigentlich sei er kein Dichter, sondern ein Politiker, dem die „gräßliche Hungersnot in China“ nicht aus dem Kopf wolle – „Vorhang“. Der mittlerweile erfolgreiche, große, 1931 mit dem Kleistpreis ausgezeichnete Bühnenautor Horváth – die Berliner Theater hatten 1931 die Italienische Nacht und die Geschichten aus dem Wiener Wald und 1932 Kasimir und Karoline herausgebracht – stellte diese kleine, böse Parodie über das zeitgenössische Theater am künstlerischen Abgrund vor den Prospekt seiner theaterästhetischen Konzeption, die er 1932 eine Gebrauchsanweisung nannte: „Alle meine Stücke sind Tragödien – sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind.“2 Unheimlich ja, aber nicht komisch, war 1933 ein pompös-theatralischer „Vorhang“ vor einem politischen Abgrund aufgegangen. In diesen Abgrund fallen die mit Aufführungsverbot auf deutschen Bühnen belegten Stücke Horváths, Heinz Hilperts Berliner