Fleisch
Das Fleisch dient Merleau-Ponty dazu, von Strömen zu sprechen, die Fassungen des Dualen oder Identischen überspülen. Es ist eine „[m]asse formateur de l’objet et du sujet […]“1 und demnach einerseits der Subjekt-Objekt-Unterscheidung vorgängig, andererseits jedoch immer räumlich und zeitlich gebunden, sofern das Fleisch nötig ist, um Wahrnehmung stattfinden zu lassen.2 Das Fleisch wird als ein anonymer vordinglicher Ermöglichungsgrund oder als eine Matrix konzipiert, in die sich die Dinge einschreiben. Auf der Ebene des Fleisches wird die Unterscheidung von Leib, Welt und Anderem in einer vorgestalteten ontologischen Dimension reiner Übergänge dissoziiert. So betrachtet rückt das, was Merleau-Ponty mit dem Fleisch zu fassen versucht, in der Unterlaufung dichotomischen Denkens in die Nähe der Faszination, aber auch der ‚autre‘ nuit Blanchots.3 Das Fleisch wie die andere Nacht sind Existenzialien, sofern mit ihnen der Annahme des Menschen als etwas sich Formendes und Geformtes Folge geleistet wird.
Im Vorgriff auf das 4. Kapitel von TO2 lässt sich das dortige Eindringen des Wortes in Thomas als ein solcher Einschreibungsvorgang übersetzen, in dem sich die Gewalt des Verstehens manifestiert, denn der Wille zum Verstehen des vor ihm liegenden Textes führt den lesenden Thomas über seinen Blick tief hinein in den Raum des Imaginären. Dieser Raum, so habe ich bereits angedeutet, ebnet alle hierarchischen Beziehungen ein und bewirkt den für Thomas so gefährlichen Aneignungsversuch durch die Wörter, die er in seiner Lektüre zu verstehen versuchte. In TO2 ist es also der Text, der sich über die Textur gewaltsam in Thomas’ Fleisch einprägt, wobei der Begriff des Fleisches hier sowohl als Leiblichkeit oder Materialität als auch in der soeben aufgezeigten Lesart des späten Merleau-Pontys im Sinne einer Matrix gemeint ist. Bedingung des Einschreibungsprozesses ist der unsichtbar durch den Raum des Sichtbaren brechende Blick.
Der phänomenologische Blick – Trennung von Auge und Blick
Merleau-Ponty wie Blanchot denken den Blick als etwas Eigenständiges, d.h. als etwas Unsichtbares, das eine imaginäre Funktion hat, die nicht auf das sehende Auge zurückgeführt werden muss.1 Durch den Blick entsteht ein imaginärer Raum, in dem es keine Hierarchien mehr gibt, wo sich folglich Sehender und Gesehenes treffen bzw. erst reziprok entstehen. Insofern muss der Begriff des Augen-Blicks hier an die Stelle des blickenden Auges als Einbruch des Anderen gesetzt werden. Sehen heißt demnach immer auch gesehen und begriffen werden, wobei hinzugefügt werden sollte, dass dies auch durch eine reine Projektion geschehen kann und nicht notwendigerweise auf Personen beschränkt bleibt. Blanchot wie Merleau-Ponty denken den Blick als etwas theoretisch ‚von-allem-ausgehen-könnendes‘ Vorhandenes in der Welt. Er ist eine unsichtbare Kraft, die Sichtbares bedingt, d.h. zum Erscheinen bringt.
Blanchot hat dafür den Begriff der Faszination eingebracht, über den ich im Vorangegangen bezüglich der Beziehung von Thomas und Anne bereits reflektiert habe. Für den Betrachter hat dies zur Folge, dass er angesichts der Eigenständigkeit der Dinge oder Personen, die ihm im Blick nicht nur als Objekte entgegen treten, als sehendes Subjekt durch sie verformt wird.2 Diese Verformung hängt mit Merleau-Pontys Vorstellung des Sehens als gerichtetes Tasten mit dem Blick zusammen, welcher den Anderen braucht, um überhaupt Blick sein zu können. Die Antwort des Anderen auf meinen Blick (und das kann z.B. bedeuten, den Anderen als Instanz, die zurückblicken könnte, überhaupt zu begreifen) ist, hinsichtlich seiner Stabilität und Geschlossenheit, ein gewaltsamer und bedrohlicher Akt für das sehende Subjekt. Als wirklich Anderer und nicht als Assimilierter bricht der Andere in das wahrnehmende Subjekt ohne große Vorankündigung ein. Der Andere birgt in sich das Wissen, dass das Ich niemals ohne den Anderen möglich wäre sowie das Wissen um die Konsequenz, dass der Zugang zum Sein in ganz unterschiedlicher Weise möglich ist. Über die reziproke Verbindung von Betrachter und Betrachtetem im Blick, der selbst unsichtbar ist, weist Merleau-Ponty zusammen mit Jacques Lacan auf die „mediale Spaltung von Auge und Blick“ hin.3 Innerhalb des „Dispositiv[s] des Sehens“ hat sich der Blick langsam vom „Solipsismus des Auges als monozentrischen Sehpunkt“4 gelöst und zu philosophisch-erkenntnistheoretischer Autonomie gefunden, deren literarische Ausprägung in Thomas l’Obscur wir am deutlichsten in Form der zuvor beschriebenen Faszination wiedererkennen können. Zurückgeführt auf die Auflösung Annes unter Thomas’ Blick, wird dort die in jeder Anwesenheit unausweichlich vorhandene Abwesenheit durch den Blick ausformuliert, der beide in sich kreuzt. Das, was im Blick wahrgenommen wird, ist etwas zutiefst Imaginäres.
Bedeutsam an der skizzierten Blickkonzeption ist die Differenz zu den meisten Wahrnehmungstheorien, da dort das Sehen einen Fernsinn darstellt, der ganz grundsätzlich von der taktilen Berührung, die die notwendige Distanz des Sehens mit dem berührenden Kontakt überschreitet, zu unterscheiden ist. Blanchot bringt vor dem Hintergrund Merleau-Pontys und dessen kurz skizzierten Formen der Zwischenleiblichkeit sowie des Fleisches, insbesondere aber mit der Auffassung des Blicks, die Berührung in den Blick. Visuelle Wahrnehmung ist damit nicht mehr isolierter sinnlicher Zugang zur Welt. Vor allem aber wird mit der Illusion der Objektivität der visuellen Wahrnehmung gebrochen, da das Subjekt immer schon durch das gebannt und verändert wird, was in seinen Blick gerät.
Taktile Berührung
„Leibliche Affiziertheit, Berührung, jeder Blick – auch wenn er sich abwendet – ist immer als Reaktion auf eine fragende Atmosphäre, als ein Fluidum zwischen Selbst und Welt […] zu verstehen.“1
Wie man berührt oder berührt wird, ob man gesehen wird oder sieht, ob man physisch-taktil berührt wird oder selbst in dieser Form jemanden oder etwas berührt, macht einen Unterschied. In der taktilen Berührung ereignet sich eine kurzfristige Aufhebung der Grenze zwischen mir und dem anderen. Diese Entgrenzung des Subjekts2 beinhaltet aber auch eine Gefährdung der Subjektstabilität in ihrer Geschlossenheit. Gleichzeitig öffnet die taktile Berührung gegenüber dem Sehen eine zusätzliche Absicherung des Wahrgenommenen ob seines Realitätsstatus. „Nur das ist für uns real, was wir auch tasten können. Denn das Sichtbare ist immer dem Verdacht ausgeliefert, bloßer Schein, bloße Simulation zu sein.“3 Ein anderes Problem des Sehens ist, dass es sich nicht selbst sehen kann, d.h. dass der Sehende alles Mögliche um sich herum zu sehen vermag, seinen eigenen Körper jedoch nur ausschnittsweise visuell wahrnehmen wird.4 Wie wir nun im letzten Punkt dieses Kapitels im Rahmen der Eigennamen sehen, oder besser: nachvollziehen werden, zweifelt der biblische ungläubige Thomas so lange an der Wahrhaftigkeit Jesu, bis er die Aufforderung erhält, mit seinem Finger die Wundmale zu berühren, auf dass dem blinden Fleck des Sehens und des Glaubens die taktile Überprüfung als Beweis hinzugefügt wird.
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