Die Wunde des Denkens als Öffnung
Diese Porösität nimmt textuell die Gestalt der Wunde an. Dies passiert durch einen zweifachen Bruch: einerseits durch einen Erzählerkommentar, der das zuvor geschilderte Differenzdenken als „rêverie répugnante“1 abstempelt, um dann andererseits über eine syntagmatische Wiederholung das Bild der sich verdunkelnden Nacht nochmals zu überschreiben. Als trace führt die Überschreibung in die Krypta der anderen Nacht, in „la nuit même“: „Bientôt, la nuit lui parut plus sombre, plus terrible que n’importe quelle nuit2, comme si elle était réellement sortie d’une blessure de la pensée qui ne se pensait plus, de la pensée prise ironiquement comme objet par autre chose que la pensée. C’était la nuit même.“3 Das Denken versetzt sich hier über die Nacht eine Wunde, die über seine Differenzen von Innen und Außen hinausgeht und die Nacht nicht mehr als objektiv benennbare Situierung zulässt. Die zuvor repräsentierte Nacht tritt über die Wunde in Thomas und ins Denken ein, um das Denken nicht mehr im Reflektierenden zu belassen, sondern es körperlich und radikal nächtlich werden zu lassen. Das entscheidende Syntagma ist die Verbindung zwischen „terrible“ und der Virtualisierung der Nacht, die als Negation jedweder Nacht zur Nacht selbst übergeht. Man sollte hier „plus terrible que n’importe quelle nuit“ sehr wörtlich lesen, um den Übergang von der Nacht zur anderen Nacht transparent zu machen. Literal gelesen ereignet sich ein Ebenensprung von bezeichenbarer und differenzierbarer Nacht, von „quelle nuit“ zur virtuellen Nacht der Nacht, für die die Aktualisierung keine Rolle spielt: „n’importe quelle nuit“, also zur „nuit même“.
Der Wald im Auge
In der absoluten Dunkelheit geschieht das Wahrnehmen der Dunkelheit ausschließlich über das Auge, das zur allumfassenden Oberfläche transformiert, auf der es keine Distinktionen mehr gibt, da die Nacht jedes Unterscheiden ausgelöscht hat. Das Auge wird zum Horizont und in einer mise en abyme kippt die Dunkelheit ins Schwarze der Pupille bzw. ins Zentrum der Nacht. In diesem leeren Zentrum ist die Sehfähigkeit als radikales Nicht-Sehen verankert:
Son œil, inutile pour voir, prenait des proportions extraordinaires, se développait d’une manière démesurée et, s’étendant sur l’horizon, laissait la nuit pénétrer en son centre pour en recevoir le jour. Par ce vide, c’était donc le regard et l’objet du regard qui se mélaient. Non seulement cet œil qui ne voyait rien appréhendait quelque chose, mais il appréhendait la cause de sa vision. Il voyait comme objet ce qui faisait qu’il ne voyait pas.1
Ein zentrales Theorem der Phänomenologie, der blinde Fleck (= Pupille), eine Prämisse des Sehens, scheint mit in dieses Bild eingearbeitet. In diesem blinden Fleck wohnt die Möglichkeit des Empfangens des Tages. Der Tag bleibt aber an dieser Stelle reine Potentialität, d.h. er erscheint nicht. In einer paradoxal wirkenden Figur nimmt das Auge seinen eigenen Erkenntnisgrund wahr. Die Ursache des Sehens ist das Nicht-Sehen, mehr noch: „Il voyait comme objet ce qui faisait qu’il ne voyait pas.“2 Das Dunkle wird in einer Weise objektiviert, die es nicht mehr zu einem Objekt des Sehens macht, das heißt, Sehen und Gesehenes trennt. Das Nicht-Sehen als Objekt tritt in der nächsten Textpassage gleichsam physisch ins Auge, wodurch eine physische Präsenz des eigentlich nicht Repräsentierbaren entsteht.
Diese Art der Auflösung einer objektivierenden Distanz des Blickes verdeutlicht sich kurz darauf über das Einnisten des ‚eigentlichen‘ Objekts des Blickes im Auge selbst. In einer Passage, die dann zu Fragen der Gewaltsamkeit der Repräsentation sowie ihrer metonymischen oder metaphorischen Verschiebungen und Verdichtungen überleitet, ist es der nicht nur erinnerte Wald des Kapitelauftaktes, der Thomas gegen jede Evidenz als „corps étranger“,3 als Fremdkörper, schmerzhaft ins Auge tritt. Wie das Nicht-Sehen zur Bedingung des Sehens wird, entpuppt sich diese physische Realität im Auge zum Ausgangspunkt eines imaginären Sehens, dass das Eindringen hypothetisch in Gestalt eines Mannes personifiziert, der in Thomas gleitet.4 Zuvor ist es jedoch der Erzähler, der auf diskursiver Ebene unter anderem über die Verwendung des conditionnel du passé den Raum des Hypothetischen eröffnet: Durch diesen Irrealis der Vergangenheit werden Sätze konstruiert, die Alternativen formulieren, welche aber zugleich negiert werden.5
Während die Gefangenen Platons zumindest noch Schatten haben, die sie wahrnehmen, bleibt Thomas nur mehr das Sehen im Dunkeln, welches ein Sehen des Dunkeln ist. Seine (Selbst-)Erkenntnis erfolgt nicht über das Licht, sondern über Steigerungen der Dunkelheit (Wald, Nacht, Höhle, Krypta). Die am Ende des Höhlengleichnisses beim erneuten Abstieg des Erleuchteten erfolgende Anpassung an das Höhlendunkel6 geschieht im Falle von Thomas nicht. Fast scheint es so, als würde Blanchot Platons Bild der „Augen […] voll von Dunkelheit“7 wörtlich nehmen. Das Nicht(s)sehen als Grund des Sehens wird gesehen, woraus sich ein neuer Absolutismus des Wirklichen ergibt: Das Nicht(s)-Sehen wird zum Alles-Sehen (= unterschiedslosem Sehen). Der unerträgliche Grund dieser Wirklichkeit scheint zu sein, dass es alle Möglichkeiten gibt. Der literarische Diskurs lässt diese Bedingung seiner Repräsentation, den Grund seiner Worte, immer wieder in sich selbst eintreten und setzt dabei die Unterscheidung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem ebenso aus wie die nach dem Grund und dem Be-/Gegründeten. Der Grund ergibt sich radikal aus seiner Gründung im kryptischen Text. Doch dieser Grund ist Effekt seiner Möglichkeiten eröffnenden Grundlosigkeit.
Der Wald in den Händen
Über das Problem des Hypothetischen und des Imaginären hinaus wird anhand des Waldes in der Pupille bis zum Ende des Kapitels die Unerbittlichkeit von Repräsentation wortwörtlich mit Händen greifbar. Noch immer unter der Prämisse des Nacht-Sehens, also eines Sehens, bei dem zwischen Körperwahrnehmung und Blick nicht zu unterscheiden ist, greifen die Hände den Wald wieder auf: „Il n’avait d’attention que pour ses mains, occupées à reconnaître les êtres mêlés à lui dont elles discernaient partiellement le caractère, chien représenté par une oreille, oiseau remplaçant l’arbre sur lequel il chantait.“1 Indem der Wald einerseits nur noch durch ‚Hund‘, ‚Vogel‘ und ‚Baum‘ vertreten ist, andererseits diese Vertreter sich wiederum vertreten, nimmt der Prozess der Repräsentation abermals seinen Ausgang. Synekdochisch ‚repräsentiert‘ das Ohr einen (aufgrund des fehlenden Artikels) generischen Hund, metonymisch ersetzt ein wiederum generischer Vogel den „arbre sur lequel il chantait“.2 Neben der metonymischen Verschiebung kommt es zudem zu einer Verdichtung, die das Ohr des Hundes mit dem Gesang des Vogels überblendet – all dies innerhalb einer hochkomplexen chiastischen Struktur. Auf diesen Repräsentationen gründend, genauer noch auf der kreativen Prozessualität des Ersetzungsvorgangs selbst, setzt hier eine Imagination ein, deren abgründige Realität betont wird. So werden „villes entières“ konstruiert, die „villes réelles faites de vide“ sind. Der derart erschaffene Raum ersetzt Konzepte der (philosophiegeschichtlichen) Vergangenheit.
Die Violenz des Repräsentationsvorgangs zeigt sich zunächst im Repräsentierten der „créatures roulant dans le sang et parfois déchirant les artères“.3 Im darauf folgenden Übergang von der Angst zur Leiche wird sie jedoch im repräsentationslogischen Verhältnis von Angst, Leiche und Begehren auch als Ersetzungsvorgang an sich sichtbar. Angst und Begehren