2. Richard Hurd und die Historisierung des ästhetischen Geschmacks
Das Prinzip des historischen Denkens wurde anhand von Kunstwerken entdeckt, und die Entdeckung verbreitete sich von dort aus in den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften, schließlich auch in wichtige Bereiche der Naturwissenschaften hinein.
Wir Deutschen sind geneigt, die Entdeckung Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) zuzuschreiben, und wenn der Vorgang symbolisch auf einen Moment zusammengezogen werden sollte, dann würden wir wahrscheinlich Goethes Begeisterung für das Straßburger Münster 1770 nennen, als er, in den Worten Friedrich Meineckes, „das Eigengesetz und den Eigenwert der Gotik entdeckt hat.“6
Tatsächlich jedoch war es ein Engländer, der in einer bei uns fast unbekannten Schrift zehn Jahre zuvor zum ersten Mal die Kunstwerke der Gotik und des Mittelalters aus sich heraus zu begreifen unternahm und damit die historische Perspektive in die Literaturwissenschaft und in die Wissenschaften allgemein einführte: Bischof Richard Hurd (1720-1808) in seinen Letters of Chivalry and Romance (1762), einem Traktat in Form von zwölf Briefen an einen nicht näher bezeichneten Freund.7 – Hurd setzt ein mit der Frage, ob die (von der Aufklärung inaugurierte bzw. geförderte) abschätzige Bewertung des „gotischen“ Mittelalters gerechtfertigt sei. (Allein aus dem – sachlich ja ganz unzutreffenden – Wort gotisch geht schon hervor, dass man sich diese Zeiten barbarisch und unzivilisiert vorstellte.) Wenn man nämlich genauer hinschaue, so Hurd, dann erkenne man auch in diesen auf den ersten Blick so fremden Kulturleistungen Sinn und Zusammenhang. So lässt sich nach Hurd das zunächst tatsächlich fremd anmutende Ritterwesen mit seinen seltsamen Turnieren vor dem Hintergrund der damaligen Feudalordnung sehr wohl verstehen. In derselben Weise der Ableitung des kulturellen Überbaus von der materiellen Basis erklärt er im weiteren das, was wir das ‚ritterliche Tugendsystem‘ nennen würden: den Kreuzzugsgedanken und die höfische Liebe vor allem. Sodann vergleicht Hurd die Taten der fahrenden Ritter mit denen der Helden Homers, angesichts der Wertschätzung des antiken Griechenlands ein brisanter und herausfordernder Gedanke, der das Mittelalter in den Augen seiner aufgeklärten Zeitgenossen gewissermaßen salonfähig machen sollte. Wenn man, so argumentiert der Bischof, über die Riesen und Drachen der mittelalterlichen Literatur hochmütig lächelt, warum dann nicht auch über Homers Götter und Halbgötter? Und wo wirklich Unterschiede zwischen den antiken Heroen und den mittelalterlichen Rittern bestehen, wie zum Beispiel in der Religion und im Kampfverhalten, da erklärt Hurd diese Differenzen mit den unterschiedlichen sozio-politischen Bedingungen der beiden Zeitalter. Dann folgt eine Erörterung von Dichtern wie Homer, Shakespeare, Ariost, Tasso, Spenser und Milton, wobei Hurd auch hier versucht, diese von einem „aufgeklärten“ klassizistischen Standpunkt aus gering geachteten Dichter als große Künstler aufzuwerten; ja, er geht sogar noch weiter und legt dar, dass gotisch geradezu ein Synonym für poetisch ist und dass die genannten Autoren in einem höheren Sinn poetisch sind als die kanonischen Autoren des klassizistischen Geschmacks.
Um zusammenzufassen: Alles, was existiert, hat Eigenwert und darf unsere volle Aufmerksamkeit verlangen; dabei bilden die materiellen Bedingungen, aus denen eine Sache entstand, die Grundlage der Deutung; die Kunstwerke der früheren Zeiten, hier speziell des Mittelalters und der Renaissance, folgen eigenen Gesetzen und dürfen nicht mit fremder Elle, sondern müssen mit ihrem eigenen Maßstab gemessen werden; und: es gibt keine allgemein verbindlichen „klassischen“ Maßstäbe. Natürlich war diese Sicht nicht völlig neu. „Wir wissen“, schreibt Arnold Hauser,
daß die Aufklärung nicht nur Historiker wie Montesquieu, Hume, Gibbon, Vico, Winckelmann und Herder aufwies und im Gegensatz zur offenbarungsmäßigen Erklärung der Kulturwerte ihren historischen Ursprung betonte, sondern dass sie auch schon eine Ahnung von der Relativität dieser Werte hatte.8
Und dennoch, so fährt Hauser fort, sei das 18. Jahrhundert unhistorisch gewesen, weil es die Natur der historischen Entwicklung verkannte und sie als eine gradlinige Kontinuität auffasste. Die Idee, dass die Natur des menschlichen Geistes, der politischen Institutionen, des Rechts, der Sprache, der Religion und der Kunst nur aus ihrer Geschichte verständlich sei, und dass das geschichtliche Leben die Sphäre darstelle, in der diese Gebilde am unmittelbarsten, reinsten, wesenhaftesten in Erscheinung treten, wäre vor der Romantik einfach undenkbar gewesen.9
Dann freilich setzt die Entwicklung mit Macht ein und erfasst in kurzer Zeit die ganze schöne Literatur, die Literaturwissenschaft und – natürlich – die Historiographie. Und wieder ist es England, das zumeist die ersten Schritte tut, wenn die Höhepunkte später auch überwiegend in Deutschland gesetzt werden. Die Literaturgeschichtsschreibung etwa beginnt mit der epochemachenden History of English Poetry (1774-81) von Thomas Warton (1728-90). Und in der Literatur selbst erlangte beispielsweise die noch junge und umstrittene Gattung des Romans Weltgeltung durch die „historischen Romane“ von Walter Scott (1771-1832). Angeregt durch die sich rapide vermehrenden antiquarischen und historiographischen Studien im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts und durch eine Vielzahl erster tastender Versuche solcher historischer Romane ab etwa 1790 schuf Scott mit Waverley (1812) das Muster der neuen Gattung.10 Hier wurde zum ersten Mal erfolgreich versucht, in einer neuen Gattung zwischen Roman und Geschichtsschreibung die Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart darzustellen, die Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart zu deuten.
3. Jean-Jacques Rousseau und die Entdeckung der Entwicklung des Menschen aus dem Kind
Gleichzeitig mit der Entdeckung der Geschichtlichkeit des ästhetischen Geschmacks, der Kunstwerke und im besonderen der Literatur wurde die „Geschichtlichkeit“ des menschlichen Lebens entdeckt, insofern als die Eigengesetzlichkeit der einzelnen Altersstufen, vor allem der Kindheit und des Jugendalters, entdeckt wurde, eine Entdeckung, die gleichbedeutend war mit der Etablierung der neuzeitlichen Pädagogik und die den Weg ebnete für die Psychologie, speziell für die Seelen-„Archäologie“, die spätere Psycho-Analyse. Die epochemachende Schrift ist Jean-Jacques Rousseaus (1712-78) Emile ou de l’éducation von 1762,11 erschienen also im selben Jahr wie Hurds Letters. Dieser pädagogische Roman ist die Übertragung des Entwicklungsgedankens im ganz wörtlichen Sinn von evolutio auf den Menschen (genauer: auf das Kind und den Heranwachsenden): Rousseaus Erziehungsmethode lässt das im Kind vorhandene „natürliche“ Potential sich „auswickeln“. Rousseau nennt diese Methode „éducation négative“ (im Zweiten Buch des Emile) und meint damit eine Erziehung, die störende zivilisatorische Einflüsse fernhält, damit der Keim wachsen kann, wie es seiner Natur entspricht. Im Grunde also wird Emile nicht erzogen, sondern wächst nach seinem Gesetz.
Im Suchen nach den echten Bedürfnissen fand Rousseau, dass sich das System der Bedürfnisse im Ablauf des natürlichen Wachstums verändere: das Kind habe andere als der Knabe, der Knabe andere als der Jüngling und dieser andere als der Mann. Jede Stufe aber müsse nach ihrem Eigengesetz leben und sich entfalten, weil sonst die nächstfolgende sich nicht naturgemäß richtig werde entfalten können.12
Parallel also zur Entdeckung der Eigenart und des Eigenwertes des Mittelalters gegenüber der antiken Klassik durch Hurd entdeckt Rousseau Eigenart und Eigenwert des Kindesalters gegenüber der – sozusagen „klassischen“ – Erwachsenenwelt und historisiert damit das menschliche Leben. In den Worten von Rudolf Lasshahn:
Erst die Kontinuität der eigenen Erfahrungen, das Bewußtsein von eigenen Erlebnissen, die Einbeziehung dessen, was man einmal war, auch die Kontinuität mit den Handlungen in zurückliegenden Jahren konstituiert das Selbst.13
Parallel zum Anachronismus bei Shakespeare und den Brüdern Limburg verstand man vor Rousseau und den zeitgenössischen Pädagogen Kinder als kleine Erwachsene, deren Kleidung beispielsweise auf zahllosen Illustrationen wie die Kleidung der Erwachsenen aussieht, nur eben kleiner. Die entgegengesetzte Entwicklung ist mit Freud erreicht, bei dem das Kind sozusagen der Vater des Menschen ist – um eine Formulierung aus William Wordsworths „Immortality Ode“ aufzugreifen –,