Die Behauptung, nur Frauen könnten Frauen verstehen usw., lautet in nur leicht verschobener Akzentuierung: Bei einer Aussage kommt es weniger auf den Inhalt an und mehr darauf, wer sie macht. Das ist keineswegs völlig falsch. Wenn mir mein Hausarzt sagt, ich hätte Pocken, nicht Windpocken, so reagiere ich anders, als wenn mir das mein kleiner Sohn sagt. Wenn ein jüdischer Dramatiker das Thema Hitler als Farce auf die Bühne bringt, so ist das etwas anderes, als wenn es ein Deutscher tut. Wenn ein berühmter Musikwissenschaftler einen Vortrag über Beethoven ankündigt, gehe ich wahrscheinlich eher hin, als wenn es der mir unbekannte Musiklehrer des Nachbardorfes tut. Vertrauen ist auch in den Wissenschaften wichtig, jedenfalls in praxi, weil sonst jeder vor lauter Nachprüfen bisheriger Ergebnisse nie über den Stand der vorigen Generation hinauskäme. Aber prinzipiell lautet die Devise: Traue niemandem, und schon gar nicht dem, der methodisch von Vertrauen redet! Aussagen müssen so gemacht sein, dass sie überprüfbar sind, und natürlich kommt es letztlich doch auf die Aussagen an und nicht auf den, der sie macht, denn sonst würde man das Kriterium der Wahrheit durch das der Betroffenheit ersetzen. Wahrhaftigkeit ist nicht gleich Wahrheit. Statt Nachprüfbarkeit hätte man das Kriterium der Autorität.
Wieder ergibt sich, dass die poststrukturalistische Theorie des Vorrangs des Subjekts vor dem Objekt in Wirklichkeit vormodern ist. Politisch steht sie auf dem Stand einer aristokratisch-paternalistischen Gesellschaft, in der die Besten wissen, was gut und richtig ist. „Quod licet Jovi, non licet bovi“ ist jedenfalls nicht das Motto der Wissenschaften im Zeitalter der pluralistischen Demokratie. (Das heißt übrigens nicht, dass Wissenschaft demokratisch wäre, sondern nur, dass beiden Institutionen das Prinzip des Misstrauens beziehungsweise des Fallibilismus zentral ist.) Auch die Literaturtheorie kennt ähnliche Tendenzen, vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach dem ontologischen Status von Literatur und nach dem Ort seiner Bedeutung. Die früheren Literaturtheoretiker waren meist die Autoren selbst, und bezeichnenderweise vertraten sie eine autorenzentrierte Theorie der Bedeutung: die Autorenintention ist die Bedeutung. Nachdem die heutigen Literaturwissenschaften längst professionalisiert sind, ist die Kluft zwischen Autor und Kritiker so tief geworden, dass viele Theoretiker der Ansicht sind, der Leser-Kritiker generiere im Akt des Lesens die Bedeutung des Texts, das Subjekt erzeuge das Objekt. Waren die Literaturwissenschaftler im Zeitalter der Dominanz der Autoren meist Philologen, also Diener der Autorenintention, oft wohl auch mehr Museumswärter als echte Vermittler, so wären die Kritiker heute gern Autoren, wie wir es aus der Welt der Bühne mit dem Phänomen des „Regietheaters“ kennen. Die frühere historisierende Methode droht einer präsentistischen Methode Platz zu machen.
Auch hier muss man wiederholen, dass die These, der Rezipient gebe einem Zeichen erst seine Bedeutung, nicht gänzlich falsch ist. In der Tat wird in Alltagskommunikation und im Kunstwerk die Autorenintention in dem Maße weniger wichtig, in dem der Text von uns weiter entfernt ist, sei es zeitlich, sei es geographisch. Die Autorenintention ist entscheidend für meine Reaktion (Interpretation), wenn ich direkt angesprochen bin, etwa wenn ich auf der Straße angerempelt werde und wissen möchte, ob das Absicht war oder Versehen. Sie ist wichtig, aber nicht allesentscheidend, wenn ich mich angesprochen fühlen darf oder muss, aber nur indirekt, etwa bei der Lektüre eines Artikels über männliches Sexualverhalten im viktorianischen England. Im Falle jedoch einer alten Tontafel mit Rechtsvorschriften für Priester aus dem Zweistromland fühle ich mich nicht mehr angesprochen, und insofern sind mir die Intention des Verfassers und damit der ganze Text gleichgültig (außer als Dokument, wenn ich Spezialist für die Sache bin). Man könnte sagen, dass ein Text mit zunehmender Entfernung von mir zum bloßen Naturereignis wird, Intention als Kategorie also entfällt.
Borges hat in seiner Kurzgeschichte Die Bibliothek von Babel so etwas wie eine Illustration des Sachverhalts geschaffen. Der Inhalt der Bücher dieser Bibliothek besteht aus allen möglichen Kombinationen von 25 Zeichen. Jedes der Bücher hat Platz für zirka 1,3 Millionen Zeichen, was bedeutet, dass es 251300000 verschiedene Bücher gibt, darunter eines, das nur aus a’s besteht, darunter aber auch eines, das den Text von Kants Kritik der reinen Vernunft enthält, eines, das eine Grammatik der litauischen Sprache enthält usw. Hier haben wir Texte vor uns, bei denen es keinerlei Autorenintention gibt, bei denen die Last der Aufgabe, einen Text mit Bedeutung zu versehen, tatsächlich ganz beim Leser-Bibliothekar liegt. Von praktischer Bedeutung ist der Fall jedoch nicht, denn selbst wenn das ganze Universum mit Büchern vollgepackt wäre, ergäbe das bei einem Liter Volumen pro Buch und einem Weltall von zehn Milliarden Lichtjahren Kantenlänge nur eine Bibliothek mit zirka 1080 Bänden (ohne Regale!) Und so viel Impraktikabilität schlägt sogar noch auf die Theorie durch: Eine solche Bibliothek kann es nicht geben, weil man nicht genug Atome im ganzen Weltall auch nur für die Druckerschwärze hätte, vom Papier ganz zu schweigen. Aber auch rein prinzipiell: Wie sollte man Kants Kritik finden, wenn man kein Kant ist und nicht weiß, wonach man suchen soll? Und wenn man ein Kant ist, dann spart es viel Zeit, die Kritik zu denken, anstatt sie unter 251300000 Büchern zu suchen. Der vielberedete „Tod des Autors“ ist letztlich nur eine hintergründige Paradoxie, die die Dialektik des Verstehensprozesses zwischen Sender und Rezipient außer Acht lässt. Tatsächlich besteht unsere Kommunikation überwiegend aus direkter Interaktion, und jede vernünftige Bedeutungstheorie wird daher intentional sein (und ist es in der Fachphilosophie auch).
Bei Kunstwerken liegt die Sache etwas anders, allerdings nicht diametral entgegengesetzt. Und zwar liegt ein Unterschied darin, dass man bei den Werken, über die man spricht, offenbar davon ausgeht, dass es lohnt, sie dem Verschwinden im Abgrund der Zeit zu entreißen, weil sie unersetzlich sind, was so viel heißt wie: sie sind durch leichter zugängliche Werke der Gegenwart nicht zu ersetzen. Bei Alltagskommunikation trifft das fast nie zu. Wie soll man die unersetzlichen Werke der Literatur aber verständlich erhalten? Man kann nicht beim Autor nachfragen, was er meinte, und es wäre auch gar nicht sinnvoll, denn man ist nicht direkt von ihm angesprochen. Insofern hat der „Dekonstruktionismus“ recht, wenn er zeigen möchte, dass die Werke für die heutigen Leser oft eine andere Bedeutung haben als der Autor vermutlich beabsichtigte. Das ist sogar eine ganz alte Einsicht, denn die Verfahren der Literaturwissenschaft sind entwickelt worden, weil die Autorenintention oft nicht (mehr) eindeutig zutage liegt, das Werk also zum Problem geworden, andererseits interessant geblieben ist. Kunstwerke sind, gerade wenn sie interessant sind, reicher als der Autor wusste, und das gilt sogar bei Alltagskommunikation, wo ebenfalls jede Äußerung mehr sagt als gemeint ist. Nur darf das Fremde, das Unzugängliche, die Distanz eben gerade nicht eingeebnet werden, denn warum sollte ich Shakespeare lesen, wenn ich doch immer nur wieder mich selbst auffände? All die Hilfstätigkeiten und Hilfswissenschaften – Handschriftenkunde, Archivstudien, Kenntnisse der Periode, des Autors, der Gattungskonventionen usw. – ergäben keinen Sinn, wenn wirklich der Interpret oder auch nur kollektive Verstehenstraditionen die Bedeutung des Werks (ganz) erschüfen.
Ein weiteres Beispiel für die in bestimmten Kreisen so beliebte Einebnung der Distanz zwischen Subjekt und Objekt in der Literaturwissenschaft ist die Theorie, Literatur und Literaturtheorie beziehungsweise Literaturkritik hätten denselben ontologischen Status und seien ununterscheidbar. Auch diese These ist nicht ganz falsch. Angesichts einer humorlosen Abhandlung über den Witz oder einer trockenen Statistik über die Liebe unter Jugendlichen heute hat sicher schon mancher die Grenzen einer naturwissenschaftlich distanzierenden Geisteswissenschaft gespürt. In diesem Sinne sagte Friedrich Schlegel, Poesie könne nur durch Poesie kritisiert werden. Für das Verhältnis zwischen Beobachter und Welt ist die These (aus dem Neuplatonismus stammend) vielleicht am schönsten in Goethes Xenie ausgedrückt: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken“. Aber selbst ein philosophischer Laie erkennt schnell, dass das nur ziemlich vage stimmen kann. Augenhaft muss Goethes Auge auch gewesen sein, denn um die Aussage machen zu können, dass Augen sonnenhaft sind, um die Sonne erblicken zu können, musste er vorher Augen