Das änderte sich mit der Formulierung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, der den Begriff der Evolution in die Physik einführte.24 Dieser Zweite Hauptsatz wurde 1850 von Rudolf Clausius (1822-88) aufgestellt. Die Fassung, die für die Zwecke dieser Argumentation am besten geeignet ist, besagt, dass Wärme von selbst nur von höherer zu niederer Temperatur übergeht. Man kann den Zweiten Hauptsatz auch den Satz von der Vermehrung der Entropie nennen; er besagt dann, „daß bei einem in einem abgeschlossenen System ablaufenden natürlichen (irreversiblen) Prozeß Zustände wachsender Wahrscheinlichkeit durchlaufen werden, bis der Prozeß schließlich im Gleichgewicht, dem Zustand maximaler Wahrscheinlichkeit, endet.“25
Das bedeutet, dass einige Gesetze der Thermodynamik nicht symmetrisch gegenüber Zeitumkehr sind. Zukunft und Vergangenheit spielen verschiedene Rollen. Das Naturgeschehen hat einen Zeitsinn. Bringt man beispielsweise zwei Körper mit verschiedenen Temperaturen in enge Berührung, so stellt sich nach einer bestimmten Zeit ein thermisches Gleichgewicht her; das Umgekehrte hat man noch nie beobachtet. Wenn eine Porzellantasse auf den Küchenboden fällt, zerbricht sie – jedenfalls meistens; das Umgekehrte, dass sich nämlich ein Scherbenhaufen spontan zu einer Tasse zusammenfügt, hat man noch nie beobachtet. Man spricht hier von „irreversiblen Prozessen“, und der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik drückt die Tatsache aus, dass irreversible Prozesse eine Richtung der Zeit einführen. Und ohne die Richtung der Zeit einzuführen, kann man keine Prozesse, die eine Entwicklung einschließen, auf nicht-triviale Weise beschreiben. Damit erhalten die Phänomene der unbelebten Natur eine geschichtliche Dimension, erhält der Begriff der Entwicklung einen Sinn auch in der Welt von Masse und Energie.
8. Der Weg zu Darwins Abstammungslehre (Carl von Linné, Johann Wolfgang von Goethe, Erasmus Darwin, Jean-Baptiste de Lamarck, Charles Darwin)
Ansätze zu einem geschichtlichen Denken in der Biologie gibt es seit alters her, aber stets nur als unsystematische Ahnungen. Normalerweise ging man von der Konstanz der Arten aus, und dieses statische Denken in der Biologie feierte im Zeitalter der Aufklärung gerade noch einmal einen großen Triumph, und zwar im Werk Carl von Linnés (1707-78),26 dem wir das System der Benennung der Pflanzen und Tiere und überhaupt die Systematisierung der Vielfalt der Lebewesen verdanken, eine Taxonomie, die von der Unveränderlichkeit der Arten ausgeht.27
Dann aber setzte sich immer unabweisbarer der Gedanke durch, dass auch die Lebewesen geschichtlich geworden sind, wie der Kosmos und die Erde. Goethes Idee der „Ur-Pflanze“28 gehört hierhin, betrifft allerdings eher die Veränderungen beim Wachstum der einzelnen Pflanzenart, ähnlich wie Rousseaus Denken die Entwicklung des einzelnen Menschen vom Säugling über das Kind zum Erwachsenen. Auch Erasmus Darwins (1731-1802) Zoonomia or the Laws of Organic Life (1794-96) ist zu erwähnen,29 worin bereits vieles angedeutet ist, was der berühmte Enkel dann, auf breite Datenbasis gestützt, zu einer systematischen Theorie ausführen sollte.
Der erste, der eine echte – wenn auch falsche – Evolutionstheorie aufstellte, war Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829). Seine Philosophie zoologique von 1809 – zu ihrer Zeit übrigens fast gänzlich ignoriert – leitet die Historisierung der Natur ein.30 Lamarcks Evolutionstheorie ist jedoch keine Deszendenztheorie;31 vielmehr findet nach Lamarck die spontane Urzeugung von Leben aus unbelebter Materie immer wieder statt, und diejenigen Arten, deren Urzeugung am längsten zurückliegt, entfalten sich zu den höchsten Individuen. In dieser Sicht ist der Mensch die älteste Spezies; die Würmer etwa gehören zu den jüngsten Arten, was man daran erkennt, dass sie noch nicht Zeit genug hatten, sich weiterzuentwickeln!
Eine echte Deszendenztheorie – und damit die Vollendung der Historisierung der belebten Natur – ist dann die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882), vorgelegt in dem Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection …, 1859 publiziert, aber schon seit 1837 in den Grundgedanken konzipiert.32 Mit dieser Deszendenztheorie, die hier nicht vorgestellt zu werden braucht, ist die Biologie – auch – eine historische Wissenschaft.
Mit Darwins Evolutionstheorie ist der Höhepunkt der Historisierung der Welt und ihrer Phänomene zwischen circa 1760 und 1860 erreicht – Höhepunkt insofern, als diese Theorie von allen Historisierungen die größten Auswirkungen auf das Weltbild der Menschen hatte. Deswegen kam sie ja auch relativ spät: sie steht dem Wortlaut der Heiligen Schrift entgegen; sie machte die Annahme eines Schöpfergottes unnötig oder verschob den Schöpfungsakt mindestens in den fast unendlich weit entfernten Moment des Urknalls; mit anderen Worten: Sie eliminiert die Teleologie aus den Naturwissenschaften, also die These, dass alles auf ein Ziel hin – von Gott – eingerichtet sei; und sie nimmt dem Menschen seine besondere Stellung im Reich des Lebendigen. So nannte Sigmund Freud Darwins Abstammungslehre eine der großen „Kränkungen“ des Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnis in den Jahrhunderten seit Beginn der Neuzeit: Er ist nur mehr ein hochentwickeltes Tier.33
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