Es blieb dem „Poststrukturalismus“ vorbehalten, dass sich wohlbestallte Wissenschaftler offen zum Prinzip der Subjektivität bekennen können, sie sogar zum Signum einer auf der Höhe der zeitgenössischen Einsichten stehenden Wissenschaftlichkeit zu machen wagen. Die philosophische Begründung stammt weitgehend aus Paris, die Praxis aus den USA. Dort wurden von Schwarzen Black Studies, von Feministinnen Women’s Studies, von Homosexuellen Gay and Lesbian Studies zur Selbstverständigung sowie zur Formulierung und Durchsetzung politischer Ziele etabliert, und dabei konnte man kritische Distanz zur je eigenen Sache und Person natürlich nicht brauchen. Für die Vereinigten Staaten als junge und zunehmend multirassische, multikulturelle, multisprachliche Gesellschaft ist die Entwicklung verständlich, vielleicht sogar eine notwendige Etappe in der Entwicklung ihrer Geisteswissenschaften und ihres Bildungssystems. Man holt dort unter den Gegebenheiten des Landes nach, was Europa bei der Herausbildung seiner Nationalstaaten, seiner Religionen und Kulturen – mehr schlecht als recht – vorgeführt hat. Die Frage ist aber, ob die starke Wirkung aus den USA zurück nach Europa wünschenswert sein kann, denn hier ist die praktische Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren nach fürchterlichen rassistischen, chauvinistischen und nicht zuletzt religiösen Bürgerkriegen endlich in Richtung auf ein ausgewogeneres Verhältnis von Betroffenheit (Selbstgerechtigkeit) und Distanz (Fremdgerechtigkeit) in den Geisteswissenschaften gegangen, nachdem die entsprechenden Theorien schon lange bereitstanden. Dabei ist die Emanzipation der Frauen und der Schwarzen sowie die Legalisierung der Homosexualität als Fortsetzung des Programms der Aufklärung und der Demokratie begrüßenswert; schließlich sind Aufklärung, Demokratie, Gewaltenteilung, Rationalität, Kritik, Meinungsfreiheit gerade der Impetus für meine Kritik am drohenden Verlust des Prinzips Distanz in den Geisteswissenschaften, zumindest in der Theorie der Geisteswissenschaften. In dieser Hinsicht ist Mangel an Distanz zum Gegenstand und zu sich selbst, auch wenn er politisch aufklärerische Ziele fördern soll, antiaufklärerisch und vordemokratisch. Und außerdem wird eine linke Identitätspolitik im Gewand von Wissenschaft den Fluch einer rechten Identitätspolitik wieder salonfähig machen: Nationalismus, Ethnozentrismus usw.
Wir sind alle immer Angehörige von Gruppen innerhalb größerer Populationen, wenn man will also von Minderheiten: Menschen, Deutsche, Erwachsene, Linkshänder, Führerscheinbesitzer, Gärtner, Krebskranke usw. Und in die geisteswissenschaftliche Forschung kann, ja muss der lebensweltliche Kontext eingehen. Es darf nur nicht so weit kommen, dass man nur als Gruppenangehöriger forscht, beziehungsweise dass man seine Ergebnisse als prinzipiell überlegen ansieht, weil man dem Text gegenüber ein privilegiertes Verhältnis zu haben glaubt. Eine Theorie der Frauenforschung, die beansprucht, nur Frauen könnten Frauen verstehen, vielleicht sogar nur lesbische Frauen („Frauen-Frauen“), lässt sich leicht ad absurdum führen. Wenn die These nämlich stimmte, dann müsste es auch so sein, dass nur eine Mutter eine Mutter versteht, nur ein Rentner einen Rentner, nur ein Moslem einen Moslem, und dann natürlich weiter nur ein moslemischer Rentner einen moslemischen Rentner usw. Letztlich könnte jeder nur sich selbst verstehen, und tatsächlich ist auch schon so argumentiert worden: die Sprache sei ein Gefängnis, und jeder sitze als Monade ohne die Möglichkeit der Verständigung (und des Verstehens) in seiner jeweiligen Zelle. Aber erstens ist das eine selbstzerstörerische Argumentation, denn wie sollte jemand, der glaubt, dass man sich nicht verständigen kann, jemand anderem verständlich machen wollen, dass man sich nicht verständlich machen kann? Und zweitens ist die These, dass wir uns (alle immer) nicht verstehen, völlig unplausibel. Nicht als ob gegenseitiges Verständnis immer ganz einfach wäre, im Gegenteil. Deswegen ist der Philosophie von den großen Anwälten der Klarheit die Rolle zugewiesen worden, „die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen“ (Frege), „die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ zu bekämpfen (Wittgenstein). Und auch die Fachwissenschaften sind unter anderem dafür da. Wenn aber die Gefängnismetapher („the prison-house of language“) stimmte, dann wären die Mauern überall anzunehmen, ja wir wären die Mauern, wir wären Mauern. Im Gegensatz zu Gefängnisinsassen sind Gefängnisse jedoch frei, womit ich nur sagen will, dass es töricht ist, dialektische Verhältnisse wie das zwischen Freiheit und Gefangensein oder Subjekt und Objekt zugunsten nur einer Komponente zu radikalisieren.
So töricht aber auch die These ist, wir könnten uns untereinander nicht verstehen, sie hat im Moment Konjunktur, vielleicht weil viele Gruppen, die eine Sache zu vertreten haben, glauben, es sei für die Durchsetzung ihrer Sache vorteilhaft, wenn man bei Dissens sagen kann, die Gegenseite verstehe einen eben nicht, könne einen auch gar nicht verstehen, weil sie ein Mann, ein Weißer, ein Intellektueller, kinderlos, alt, kein Alkoholiker usw. sei. Für das Verstehen ist es häufig jedoch gerade hilfreich, nicht persönlich betroffen, nicht nah zur Sache zu sein. Manche Details sieht man besser aus der Nähe, manche Strukturen besser aus der Ferne. Welcher Regisseur lässt einen Dementen einen Dementen spielen, welcher Richter verlässt sich allein auf die Aussagen des Angeklagten? Dass ein Forscher über magische Vorstellungen der Azande eine Zeitlang bei den Azande lebt und sich erzählen lässt, warum nach ihrer Meinung Orakel und Magie wirken, ist klar. Zugleich muss sich der Forscher aber die Distanz des Fremden bewahren, denn sonst kann er die magischen Vorstellungen ja nicht mehr mit anderen Praktiken der Wirklichkeitsbewältigung vergleichen. Charakteristischerweise hat kein Azande seinen Orakelglauben kritisch reflektiert, sondern Evans-Pritchard, und wir können daher nicht wünschen, er wäre ein Azande gewesen oder geworden. Das hat unter anderem damit zu tun, dass kritische Wissenschaft in der Lage ist, nicht nur andere Verfahren zu reflektieren, sondern auch sich selbst. Dass es dabei prinzipielle Grenzen der Reflexionsfähigkeit gibt, ist unbestritten, aber die Grenzen sind doch deutlich weiter hinausgeschoben als in unkritischen Verfahren.
Politisch sieht die Sache allerdings anders aus. Niemand wird den in einer Gewerkschaft organisierten Arbeitern theoretisch bestreiten wollen, dass sie berechtigt sind, ihre Interessen selbst zu definieren und zu vertreten, ebenso bei Lesbierinnen oder bei der Standesorganisation der Makler. Die Möglichkeit, die eigenen Interessen zu vertreten, sei es als Gruppe oder als Individuum, gehört sogar ganz elementar zur Demokratie, im Unterschied zu einer paternalistischen oder gar diktatorischen Gesellschaftsverfassung. Aber Interessenvertretung ist eben gerade nicht Wissenschaft, und insofern gehört – da auch Wissenschaftler sich ihre Interessenvertretungen geschaffen haben – die Kontrolle der Wissenschaftler durch die Gesellschaft der Laien zum Prinzip der Demokratie.
Nun können Feministinnen einwenden, dass Männer früher aber kaum Frauenforschung betrieben hätten, dass Männer – charakteristischerweise oder zufälligerweise – die Leistungen von Frauen vernachlässigt hätten, und Gleiches gilt für andere Gruppen, die als Gruppen oder Individuen von der Gleichberechtigung und Macht ausgeschlossen waren oder sind. Das ist richtig, aber auch hier zeigt sich, dass kritische Wissenschaftlichkeit viel flexibler reagiert als unkritische Verfahren: denn nach nur einigen Jahrzehnten gibt es die Fächer allenthalben. Nur ist es so, dass die Vertreter der neuen Disziplinen diese nicht zuletzt deshalb durchgesetzt haben, um – bewaffnet mit der Theorie, dass nur die Objekte der Forschung ihre Subjekte sein können – den jeweiligen Gruppenmitgliedern die Türen zu Karrieren zu öffnen. Weil jedem männlichen Nachwuchsforscher klar ist, dass Women’s Studies für Frauen reserviert sind, um den Anteil von Frauen an der Professorenschaft zu erhöhen, dass er also niemals eine Chance auf eine Stelle haben wird, vermeidet er das Fach. So entstehen Wissenschaftsghettos und Anhänger der Theorie, dass sich Menschengruppen untereinander nicht verstehen können.
Man kann auch einwenden, dass Wissenschaft nicht so hehr sei, wie es oben geschienen haben könnte, nämlich allein oder vornehmlich der Wahrheitssuche gewidmet, während Interessenvertretung in den Niederungen der Alltagspraxis angesiedelt sei. Auch wissenschaftliche Forschung selbst – nicht nur Standespolitik der Wissenschaftler – geht in der Tat unter erkenntnisleitenden Interessen vor sich, ist also immer auch Interessenvertretung, ganz deutlich in der ingenieurswissenschaftlichen Drittmittelforschung, aber auch in den Geisteswissenschaften, was man schon daran zu erkennen vermag, dass jede Seite in jedem pädagogischen Richtungskampf einen Professor mobilisieren kann, dass für jede Feier,