Der Ekelaffekt in seiner besonders heftigen Spontaneität kommt in all seiner Intensität eigentlich erst zum Tragen, wenn der Ekelreiz als aufdringlich empfunden wird. Der Ekel kann damit gleichsam als Abstoßung eines in seiner unmittelbaren Intimität als unerträglich empfundenen Gegenstands beschrieben werden. Indessen kann dieser Gegenstand aber nicht nur reinen, ungetrübten Abscheu hervorrufen, sondern durchaus auch faszinieren. In diesem Sinne ist Ekel bei Freud und Kristeva eine Form der Verdrängung bzw. Abspaltung ureigenster Triebe – eine Verdrängung, die sich das Ich zur Selbsterhaltung bzw. zur Subjektkonstitution selbst auferlegt hat.17 Somit lässt sich der Ekel mit Menninghaus wie folgt verstehen als
die heftige Abwehr (1) einer physischen Präsenz bzw. eines uns nahe angehenden Phänomens (2), von dem in unterschiedlichen Graden zugleich eine unterbewußte Attraktion bis offene Faszination ausgehen kann (3).18
Ferner wird er von Reiß weiter ausdifferenziert in Ekel erster Ordnung und Ekel zweiter Ordnung.19 Ekel erster Ordnung bezeichnet dabei den »gemeinschaftsbildenden Ekel«, welcher durch Objekte ausgelöst wird, die kollektiv als ekelerregend empfunden werden.20 Einen eindrucksvollen und umfassenden Katalog relativ universaler Ekelobjekte erstellte der österreichisch-britische Philosoph Aurel Kolnai in seinem 1929 erschienenen Essay »Der Ekel«. Als Gegenstand des Ekels benennt er Objekte, die den folgenden Kategorien angehören: a) dem »Erscheinungskreis der Fäulnis«, d.h. der Verwesung und Zersetzung; b) dem Bereich der Exkremente, d.h. die »Zersetzungsprodukte des Lebens«, sowie c) der Kategorie der körperlichen Ausscheidungen; ferner verweist er auf d) den Ekeltyp des Klebens, d.h. alles, was dort haften bleibt, wo es nicht bleiben soll; e) ekelerregende Tiere, vor allem Insekten; f) Speisen, im Besonderen, weil diese im Übermaß genossen zum Überdrussekel führen; g) der menschliche Leib, wenn dieser als aufdringlich, physisch zu nah in all seiner Körperlichkeit empfunden wird; h) den Ekel vor dem »wuchernden Leben«, der »üppigen Fruchtbarkeit«, d.h. »das Geistig-Ekelhafte der Idee formlos schäumender Vitalität, qualitätsgleichgültiger Drauflosproduktion von Keimen und Brut«; i) den Bereich der Krankheit und »körperlichen Verwachsenheit«, d.h. der Ekel vor dem deformierten menschlichen Körper.21 Gleichwohl liefert Kolnai einen Apparat an moralisch Ekelerregendem, der sich auf die folgenden Kategorien reduzieren lässt: a) den Überdrussekel; b) in Analogie zum physischen Ekel ein Übermaß an oder falscherorts entfalteter Vitalität; c) die ungeordnete, ungezähmte Sexualität; d) die Lüge; e) die Falschheit bzw. Untreue und f) die moralische Weichheit.22 Diese Objekte (sowohl physisch-materieller als auch moralischer Natur) fallen damit in den Bannkreis zumindest größtenteils kollektiv empfundener Ekelempfindungen und gehören damit dem Ekel erster Ordnung an. Reiß grenzt demgegenüber den Ekel zweiter Ordnung ab, den der sogenannte Lebensekel konstitutiert.23 Da dieser deutlich diffuser, weniger an konkrete Gegenstände gebunden ist, gilt er gleichsam als subjektiv und individuell variabel.24
Wie eingangs mit Rekurs auf Kant und Mendelssohn erläutert wurde, besteht die vordergründige Problematik des Ekelaffektes in seiner scheinbaren Nicht-Ästhetisierbarkeit. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Ekel das ästhetische Spiel mit der Fiktion durchbreche, in jedem Fall stets Natur, nie aber Kunst sei. Tatsächlich ist der durch Kunst erzeugte Ekel anderer Natur als der realiter produzierte.25 Wahrnehmungssubjekt und Kunstrezipient fallen hier in eins, doch in der Regel weiß letzterer um die Tatsache, dass er sich einer Fiktion ausliefert und hat in gewissem Maß die Kontrolle darüber, inwieweit er sich ihr aussetzt. Das Ekelobjekt ist in dieser Situation nicht physisch präsent, sondern lediglich in der Nachahmung. Das Kunstwerk fungiert quasi als Vermittler zwischen Rezipient und Ekelobjekt; das dem Ekelaffekt zugrundeliegende Gefühl von überwältigender Nähe wird durch das Kunstwerk hergestellt. Es scheint naheliegend, dass gewisse Schlüsselreize auch in der Mimesis der Fiktion wirken: So wird eine besonders plastische bildliche Darstellung eines verwesenden Leichnams oder die ausnehmend detaillierte Schilderung einer stinkenden, schmutzigen Kloake auch in der Vorstellung eine Form des Ekels erzeugen. Somit ist für den Künstler wiederum in gewisser Weise absehbar, wie das Kunstwerk wirken wird: Sofern Ekelobjekte, die in der Regel als kollektiv ekelhaft gelten, in der Darstellung nachgeahmt werden, kann davon ausgegangen werden, dass sie auf ähnliche Weise auf den Rezipienten einwirken, wie sie dies in der Realität tun. Wie Reiß herausstellt, lassen sich somit »phänomenologische Motivketten des Ekels erster Ordnung« detektieren, welche besonders effektiv den Ekelaffekt zu produzieren vermögen.26 Gleichsam vermag Kunst aber sicherlich auch moralischen Ekel hervorzurufen, indem sie ethisch fragliche Handlungen an Ekelzuschreibungen koppelt.
In der Moderne und Postmoderne scheint die Position, wie sie noch Kant und Mendelssohn u.a. vertraten, kaum noch adäquat: Längst gilt Ekelerregendes nicht mehr als Ausschlusskriterium für künstlerisch Wertvolles und ästhetisch Genießbares. Genres und Strömungen wie die gothic novel, Dekadenz, Naturalismus und Expressionismus, das »théâtre de la cruauté« oder auch abject art in den bildenden Künsten – um nur ein paar Beispiele zu nennen – belegen, dass Kunst und Ekelmotive sich nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass in Anbetracht der Ubiquität von Gewalt, Elend und Sexualität sowohl in den Künsten als auch der gegenwärtigen Popkultur (ein Trend, der sich seit den 90er Jahren fortsetzt) eine vollständige Integration, gar Abstumpfung von Ekelreizen stattgefunden hat. Thomas Anz lotet die Möglichkeiten des Genusses von Ekelhaftem in der Literatur und Kunst aus und macht dabei gleichsam die Theorie des Erhabenen für ein besseres Verständnis der Wirkungsweisen des Ekelhaften nutzbar.27 Analog zu den Kategorien des Tragischen und Entsetzlichen kann der menschliche Geist seine Stärke auch an der Kategorie des Ekelhaften erproben, sich über die drohende Reizüberwältigung erhaben zu fühlen: »Gelingt es dem Subjekt, sogar noch diesem Angst- und Ekelgemisch [gemeint ist das Beispiel eines verwesenden Leichnams] standzuhalten, kann es den Stolz seiner Autonomie um so mächtiger erfahren.«28
Eine weitere Möglichkeit der positiven Umwertung des Ekelhaften in der Kunst ist aber vor allen Dingen die moralische Lust, d.h. das »Gefühl der Erleichterung, der Genugtuung oder sogar des Triumphes, wenn die Guten siegen und die Bösen vernichtet werden«.29 In diesem Sinne lizenziert moralische Verwerflichkeit eine besonders schauderliche Zelebrierung des Ekelhaften, sofern es um dessen Zerschlagung geht. Brittnacher beobachtet in Bezug auf die phantastische Literatur, dass sich diese genau jenes Prinzip aneignet:
Die Phantastik rehabilitiert jene Mittel, die die Aufklärung gerade aus dem Repertoire zivilen Verhaltens verbannt hatte. Der Horror vereinfacht: Er macht das Böse so widerlich, daß das vermeintlich Gute mit gutem Gewissen so böse wie das Böse werden darf. Der Ekel berechtigt zu einem hemmungslosen, befreienden Gewaltbacchanal der Opfer, in dem das Ekelhafte zerschlagen, zertreten, verbrannt oder in die Luft gesprengt wird.30
Ähnlich dem Prinzip der Katharsis kommt es so zu einer Triebabfuhr: Durch die Kunst können Aggressionen kanalisiert und sublimiert werden, welche sich umso wirkungsvoller entladen, je schauderlicher und ekelerregender die geschilderte Bannung des Bösen ist.31 Generell können Ekelmotive letztlich für eine Affektsteigerung instrumentalisiert werden. So wird die detaillierte Beschreibung des geschundenen Leichnams des Hippolyte in Racines Phèdre gleichsam den Schauder und Jammer um seinen tragischen Tod erhöhen. Analog verhält es sich mit dem Märtyrertod, der umso imposanter wirkt, je größer die Qualen im Diesseits sind.32
Letztlich liegt eine der großen Attraktionen des Ekelhaften aber auch in seiner Reizstärke, eben genau in der Tatsache, dass er mit einer solchen, nahezu unerträglichen Intensität auf das Subjekt einwirkt. Hier kommt wieder Du Bos’ Maxime zum Tragen, der zufolge es uns ein unermessliches Vergnügen bereitet, von der Kunst bewegt,