Positiv betrachtet aber bietet der Text eine Transformationsdynamik an, die zwei Bewegungsrichtungen einschlägt: Beginnt die Klage damit, den muot der Modellperson als Differenzordnung aufzudecken, so verbergen die Schlussstrophen diese Differenz, ohne sie zu löschen. Als Wechselform erhöht Latenz somit die Komplexität der Stimme gerade dadurch, dass Innen- und Außenkommunikation der Klage nur als labile Transformationsdynamik, nicht aber als Bestimmungsverhältnis aufeinander bezogen sind. Dies könnte erklären, weshalb Forschungsversuche letztlich erfolglos blieben, die Problemlösung des Binnendialogs oder die Sprecherinstanz des Dialograhmens zu identifizieren. Verleiht dies den Preisstrophen etwas Unentscheidbares, so ist ihre Stimme keineswegs nebulös: Der, der am Ende spricht, erweist sich anschließend als komplexer;84 auf dieses Wahrnehmungsangebot zielt die Vervielfältigung durch inneren Streit.
Dazu ist nötig, Differenz zu verdecken, ohne sie zu annullieren. Deshalb führt der Weg der Schlussstrophen nicht über Negationen, um etwa die Unterscheidung von Herz und Körper zu widerrufen, sondern führt zu ihrer Externalisierung. Dies leisten insbesondere religiöse Diskurszitate, die in der ersten Hälfte des Streitdialogs den Konflikt von Herz und Körper als Orientierungsproblem zwischen Gott und Teufel einordnen: Betrügerische Männer wünscht der Körper zum Teufel (V. 250), denn Frauen zu verführen, sei eine werltwünne, die Gott bestrafen möge (V. 277f.); formelhaft bittet der Körper das Herz um Nachsicht durch got (V. 407, 413); umgekehrt mahnt auch das Herz zu Gottvertrauen und warnt vor Gottes Strafen und der Verführungskraft des Teufels (V. 807–820);85 Gott habe beiden eine gemeinsame Seele verliehen, die zum Heil zu bewahren sei, um nicht dem Teufel überantwortet zu werden (V. 1034–1060). Je tiefer sich der Streitdialog eingräbt, desto seltener fallen derartige Bezüge. Nach dem stichomythischen Wortgefecht sind sie nahezu verschwunden.86 Die Schlussstrophen jedoch greifen wieder verstärkt auf solche Referenzen zurück, die sie auf geringem Versumfang verdichten: Während der Teufel nach Schaden trachte, halte sich das Ich in seiner Rede an Gott (V. 1683–1687) und bittet die Dame um ihres Schöpfers willen um Zärtlichkeiten (V. 1721–1725) – Verweigerung aber wäre Sünde (V. 1783, so auch V. 1875f.); Gott möge das Ich vor Sorgen behüten (V. 1788). Mit der Schlussformel unterstellt das Ich seine Seele und seinen Körper ganz der Verfügung der Dame (V. 1911f.). All dies verbindet die Klage mit prominenten Modellen von Seelenkämpfen – von Tugendkatalogen (Psychomachia) über Anklage- bzw. Gerichtsordnungen zwischen Gott und Teufel (Vorauer Sündenklage) bis zu Spaltungsphantasmen, die wieder auf die traditionelle Doppelformel von anima und corpus zurückgreifen (Visio Philiberti). Doch tragen derartige Bezüge kaum so weit, den gesamten Text in einen moraltheologischen Kontext zu transportieren,87 so punktuell und unverbunden bleiben sie gegenüber der Diskussionsstruktur des Wettkampfdialogs. Auch untereinander scheinen Verweise auf die Seele – vom gotteslästerlichen Schwur bis zur orthodoxen Ermahnung – auffällig unabgestimmt: »Die Seele ist daher ohne weiteres ambivalent einsetzbar, als ironieverdächtige Hyperbel ebenso wie als theologisch gewichtiges Argument«.88
Religiöse Diskurszitate liefern dadurch allenfalls bewegliche Bruchstücke, keinesfalls aber feste Ankerpunkte, um den Kampf im Menschen nach außen zu stülpen.89 Dennoch tragen sie dazu bei, Differenz zurückzunehmen, genauer: die Differenz der Streitpartner insgesamt wieder in äußere Kontexte zu befördern. Noch als semantische Spurenelemente verhelfen Bezüge auf Gott, den Teufel oder die Seele dazu, die Schlussstrophen in strukturellem Sinne zu externalisieren: Sie bringen die Form, die der Streitdialog intern vervielfältigt hatte, in den Kontext von Redeordnungen zurück, welche die gesamte Modellperson umgreifen.
(4.) Verstetigung. Die Klage bezeichnet diese doppelte Transformation selbst als Stabilisierung. In diesem Sinne rät das Herz zur stæte:
grîf vil stæticlîchen zuo,
als der dâ beherten wil
durch miete ûz unz an daz zil,
und kum niht gâhes an sî,
daz ir dîn gewerp bî
unstæticlîchen wone.
dâ erkennet sî dich vone
in stæticlîchem muote;
des vergiltet dir diu guote.
(V. 1542–1550)90
Auch die Schlussempfehlung der Streitpartner antwortet auf das Ausgangsproblem also paradox: Nicht Lösungsannäherung ermöglicht die Erkennbarkeit des Innen, sondern beständig gehaltene Distanz. Hält man sich an den präskriptiven, unwidersprochenen Gestus solcher Aussagen, könnte man in dieser lêre eine Textintention hören (bes. V. 1614).91 Aber handelt es sich dabei um ein Programm?92 Postuliert die Stimme des Herzens die Leitvokabel eines »ritterlichen Tugendsystems«, wie es Wolf Gewehr durch akribische Rückgriffe auf die lateinische Terminologie geistlicher Tugendlehren nachzuweisen versucht hatte?93
Tatsächlich genießt das Konzept der Stetigkeit metapoetischen Status. Doch bezeichnet es weniger einen »Normbegriff«94 als eine konkrete diskursive Praxis. Die Klage entwirft dazu das aufwändige Arrangement eines latenten Wettkampfs, der interne Konsistenz zwischen Instanzen begünstigt, die sich agonal verstetigen. Je für sich schreiben sich die Streitpartner solche Beständigkeit zu: Permanent sorge sich das Herz und ›schlafe niemals‹ (V. 691–694); trotz Morddrohungen bekennt sich auch der Körper zu unendlicher Qual (V. 398). Wie es für beide unmöglich ist, unvermittelte Einheit zu erzwingen, gelingt es weder praktisch noch argumentativ, Trennlinien zu ziehen. Wie die Metaempfehlung des Herzens treffend benennt, verstetigen sich die Streitpartner also in dieser ›mittleren Distanz‹ des offenen Problems: nah, aber unterschieden. Einen Raum für diese Nahdistanz eröffnet der Dialog im muot.95 Konsistenz gewinnt das Ich also nicht durch eine gefestigte Position – darin liegt, so meine ich, die experimentelle Zumutung der Klage –, sondern durch die Dynamik.
Als ethisches Programmwort tritt stæte damit hinter die diskursive Praxis der Verstetigung zurück. Entsprechend nehmen die Schlussstrophen den Begriff zurück, um an seiner Stelle eher Argumente und Bilder zeitlicher Beständigkeit zu projizieren:
Sît ich dîn künde ie gewan,
sô bist dûz alters eine
der ich mir ze frouwen gan
(V. 1735–1737)
ich wæne ê wazzer unde walt
und diu erde verbrinne
– daz ist zuo dem suontage gezalt –
und uns der tage zerinne,
möhte ich werden alsô alt,
ê ich von dir die sinne
benim, swie lützel ez noch galt,
ich diene umb dîne minne.
(V. 1831–1838)
Ist daz ich mînen langen wân
nâch heile volbringe