Allgemein lassen sich Wettkämpfe als Formen der Beobachtung begreifen, die durch Bezeichnungen etwas hervorheben und im Kontext konkurrierender, d.h. durch Unterscheidung abgesetzter Bezeichnungen fortlaufend wiedereinführen. Sofern sich Wettkämpfe also nicht im einmaligen Schlagabtausch erschöpfen, lassen sie ihre Variablen rekursiv alternieren. Will man dies mit den Mitteln von Spencer-Browns Formkalkül darstellen, sind Wettkämpfe daher als sog. ›re-entry‹-Funktionen zu begreifen,15 welche die Form ihrer Unterscheidung fortlaufend in sich wiedereinführen: [[Wettkampf.ABB]]
Eine solche Grundform mit zwei Variablen (a, b) erfasst paradigmatisch die Differenzdynamik geordneter Zweikämpfe. Vollständig betrachtet fasst sie folgende Aspekte zusammen:16
»Wettkampf« als zu bestimmende Größe, die sich durch den Ausdruck rechts des Gleichheitszeichens bestimmt;
das Gleichheitszeichen, das die Ausdrücke beider Seiten als äquivalent bezeichnet und ihren Zusammenhang als Setzung einer Theorie ausweist. Beide Seiten sind dadurch nicht als identisch aufzufassen, sondern lediglich zu verbinden;17
Variablen (»a« und »b«) für Bezeichnungen, die im Falle von Zweikämpfen auf zwei Positionen beschränkt sind, aber im Falle komplexerer Relationen nicht auf zwei beschränkt bleiben müssen;18 welche Figuren, Ereignisse oder sonstige narrativen Hervorhebungen damit im Einzelfall bezeichnet sind, ist in der Analyse von Wettkämpfen zu konkretisieren;
das Hakensymbol (), Spencer-Browns »mark of distinction«, d.h. die Anweisung, eine Unterscheidung zu treffen, indem eine Grenze mit zwei Seiten in einem Raum gezogen wird, welche auf eine Seite hin überschritten wird, um eine Position hervorzuheben;19
das schleifenförmige Hakensymbol (), das den Wiedereintritt der Unterscheidung von Bezeichnungen in den Raum dieser Unterscheidung selbst markiert (›re-entry‹) und damit dynamische Potenzierung einleitet – eine »Fähigkeit zur unendlichen Erzeugung von Bewegung«.20 Die Formel wird dadurch zur Funktion, die ihre Variablen alternierend in sich einführt: Wettkämpfe arbeiten sich formal gesehen in sich hinein, indem eine Position in den Kontext der anderen einspringt usf.;21
zuletzt der ›unmarked state‹ rechts des ›re-entry‹-Symbols, der darauf aufmerksam macht, dass die Wahl einer Bezeichnung zwecks Kontextuierung einer weiteren Bezeichnung ihrerseits die Außenseite einer Form mitlaufen lässt. Wettkämpfe machen zwar ihre Umgebung vergessen und schaffen ›insuläre Konzentration‹ – Gegner von Heldenepen treten in den kreiz,22 die isländische Sagaliteratur des Mittelalters bezeichnet ritualisierte Zweikämpfe als hólmganga, die wörtl. ›auf die Insel gehen‹, und betont damit das Prinzip der Eingrenzung,23 das jegliches Außen abblendet.24 Trotzdem vollziehen sich Zweikämpfe nie im luftleeren Raum, sondern sind stets beobachtete Ordnung.25
Gleichwohl: Eine solche Notationsweise führt literaturwissenschaftliche Analysen wenig weiter, wenn sie die phänomenale Dichte literarischer Texte, ihre Deutungs- und Wirkungsmöglichkeiten ignoriert.26 Die nachfolgenden Lektüren verzichten daher darauf, mit formalen Symbolen zu rechnen. Doch hilft eine formale Vorklärung zur Entwicklung von Fragen, die das Untersuchungsmaterial zielgerichtet erschließen. Quer zu Gattungen und Diskursen, Stoffen und Motiven ließe sich so zum Beispiel fragen: Was heben Wettkampferzählungen hervor und wie etablieren, verfestigen oder überschreiten sie Unterscheidungen? In welche Kontexte schreiben sie ihre Differenzen ein, welche Kontexte bringen sie neu hervor? Welche Dynamik charakterisiert Wettkampferzählungen – welche narrativen Prozesse sorgen für rekursive Vertiefungen, welche für Abbrüche oder Begrenzungen von Wettkämpfen? Inwiefern tragen Wettkämpfe dazu bei, Kämpfer, umkämpfte Objekte oder Kampfkontexte zu bestimmen – oder inwiefern sorgen sie für unbestimmte Größen? Jede dieser Fragen eröffnet aufschlussreiche Zugänge zum kulturellen Potential von Wettkampfformen; und jede dieser Fragen setzt bei unterschiedlichen Teilaspekten des Arbeitsmodells an.
Formal könnte man damit auch das Verhältnis von Kampf, Wettkampf und Zweikampf als Reihe zunehmender Spezifizierung fassen: Versteht man Kampf im weitesten Sinne als Einführung und Durchsetzung von Differenz (ganz gleich in welchem Kontext), so kennzeichnet Wettkampf zusätzlich die fortlaufende Umbesetzung solcher Differenz innerhalb eines gemeinsamen Kontextes, wobei die Seiten der Unterscheidung dynamisch überschritten und dadurch unablässig neu relationiert werden; Zweikämpfe spezifizieren diese Dynamik weiter, indem sie eine bestimmte Zahl von Aktanten festlegen.
Darüber hinaus fängt ein formales Arbeitsmodell viele Gesichtspunkte ein, welche die Erforschung von Wettkampfbeziehungen disziplinenübergreifend beschäftigen. So bringen sich etwa Wettkampfformen in Schwingung, indem sie Bezeichnungen und Markierungen fortgesetzt alternieren lassen. Wettkämpfe lagern staffelförmig ineinander ein, was sie im Wechsel fortwährend unterscheiden. Sie ordnen Zug um Zug, doch werden solche Züge nur im Kontext des je vorhergehenden Zuges getroffen und beschrieben. Sollen dabei nicht bloß lose Ereignispunkte aufblitzen, müssen Bezeichnungen dabei aufeinander Bezug nehmen. Fehde-Erzählungen bilden auf diese Weise charakteristische Rhythmen aus,27 Sangsprüche fügen sich zu umfangreichen Strophenkomplexen, die im selben Maße einander voraussetzen, wie sie sich voneinander abzusetzen suchen.28 Wettkämpfe werden umso komplexer, je tiefere Räume dadurch erschlossen und durch Unterscheidung und Kontextuierung aufrechterhalten werden.
Die Funktion des ›re-entry‹ legt solche Aspekte dynamischer Rekursion offen. Ihre paradoxen Unterscheidungen machen Wettkämpfe anziehend und irritierend zugleich, schwer abzulehnen und leicht fortsetzbar. Zwar lässt sich in jedem Schritt temporär bestimmen, welche Werte einzelnen Figuren, Handlungen und Zuständen (etwa: im Rahmen der Axiologie eines Textes) zugeschrieben werden, doch wird die gesamte Form des Wettkampfs unbestimmbar – sie entfaltet einen ›imaginären‹ Charakter (›imaginary state‹), der zwischen verschiedenen Zuständen oszilliert.29 Wettkämpfe rufen daher pulsierende Frequenzmuster hervor, die für Serien- und Reihenkämpfe eine ebenso wichtige Rolle spielen wie für das serielle Erzählen insgesamt.30 Weichen Wettkämpfe dafür nicht nur in die Zeitdimension aus, sondern halten nachdrücklich an der Raumdimension ihrer Unterscheidungen fest, so weicht deren eindeutige Bestimmung auf – es enstehen Arrangements mehrschichtiger Unterscheidungen. Grenzen treten in den Blick, die fortgesetzt verletzt, unterlaufen und nachgezogen werden. Dies schärft den Blick auch für räumliche Dynamiken von Komplexität. So erzählen zum Beispiel höfische Romane fasziniert von unterlaufenen Unterscheidungen – mit einer extravaganten Raummetapher spricht etwa Hartmanns Iwein von einer ›Trennwand im Herzen‹, die befreundete Feinde vor Gefühlsverwirrung schützen solle.31 Wenn Wettkämpfe Spielräume der Vervielfältigung eröffnen, so wäre der Raumcharakter solcher Metaphern also durchaus beim Wort zu nehmen.
Methodisch heißt dies, dass solche Spielräume nur in der Spannung zwischen konkreten Textbeschreibungen und abstrakter Formanalyse zu rekonstruieren sind. Daher sollte das Plädoyer für formale Perspektiven nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Potentiale von Wettkampfmustern nur dann ermessen lassen, wenn man zugleich ihre je unterschiedlichen generischen, diskursiven, semantischen und narrativen Bedingungen berücksichtigt – in einlässlichen, textnahen Lektüren. Diese Spannung teilt die vorliegende Arbeit mit älteren Ansätzen, allen voran dem Vorschlag Rainer Warnings, die Frage nach basalen Textstrukturen mit hermeneutischen Beschreibungen zu vermitteln.32 Auch die Untersuchung von Wettkampfformen nähert sich vielfach der Analyse von ›Strukturen‹ an; auch die Beschreibung ihrer Komplexität mag an strukturalistische Begriffe erinnern. Trotz solcher Anklänge gilt es jedoch – ebenfalls im Sinne Warnings – möglichst genau die spezifischen Textgestalten in den Blick zu nehmen. Auch wenn die Arbeit also von Grundoperationen des Wettkampfs ausgeht, zielt ihr Interesse nicht auf strukturale Universalien, sondern auf historische Ausprägungen, Dynamiken und Veränderungen eines höchst flexiblen Arrangements; nicht Tiefenstrukturen von binären Oppositionen oder die invariante Erzählgrammatik von Konfliktsujets, sondern paradoxe Erzähloberflächen gilt es zu erschließen.
Wenn die nachfolgenden Lektüren dazu durchweg bei auffälligen,