1 Wettkampf
»Es gibt wohl keine Seele, der der formale Reiz des Kampfes […] ganz versagt wäre […].« (Georg Simmel)1
1.1 Vorbemerkung
Um Pluralisierungspotentiale mittelalterlicher Wettkampferzählungen beschreiben zu können, bedarf es einer Arbeitsdefinition, die formal zielsicher, aber heuristisch offen genug angelegt ist, um historisch fremde Kulturformen zu erfassen. Wie lässt sich ein solcher Ausgangspunkt gewinnen, dem nicht schon eine moderne Form von Pluralismus – und damit eine spezifische kulturelle Differenztypik – eingeschrieben wäre? Sollte man dafür eher historischen Beschreibungen oder modernen Forschungsperspektiven folgen? Einen Vorschlag zu diesem methodischen Spannungsfeld möchte ich im folgenden Kapitel in drei Schritten entwickeln. Dazu möchte ich zunächst kurz mittelalterliche und moderne Vorschläge in Erinnerung rufen, die ein vielgestaltiges Feld von Kampfformen differenzieren. Schon die Art ihrer Differenzierung, so wird sich zeigen, gibt wichtige Fingerzeige im Hinblick auf die historische Alterität vormoderner Wettkämpfe (Kap. II.1.2). Daran anschließend möchte ich in einem zweiten Schritt ein differenztheoretisches Modell skizzieren, das aus modernen Theoriezusammenhängen der mathematischen Logik schöpft. Trotz seiner systematischen Abstraktion hält sich dieser Ansatz offen genug, um die historischen Unterscheidungslogiken mittelalterlicher Wettkampferzählungen einfangen zu können, für deren formale Aspekte er in besonderer Weise sensibilisiert (Kap. II.1.3). Eine formale Arbeitsdefinition könnte somit helfen, möglichst textnahe, präzise Analysen von Wettkämpfen mit der übergreifenden Frage nach Formen des Unterscheidens zu vermitteln, denen das weitergehende kulturtheoretische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit gilt. Trotzdem haben auch Wettkampfkulturen ihre Grenzen, die in aller Kürze anzusprechen sind – und dies nicht nur als Phänomene der Komplexitätsbildung (II.1.4), sondern dementsprechend auch als Forschungskonzept (II.1.5).
1.2 Kampf, Streit, Konflikt? Zum Verhältnis von mittelalterlicher und moderner Wettkampfsemantik
Wie weit kann man sich von der historischen Semantik leiten lassen, um die kulturellen Dimensionen von Wettkämpfen ermessen zu können? Aus unterschiedlichen Disziplinen hat die mediävistische Forschung in diese Richtung gefragt.1 Erforscht wurde ein breites Spektrum agonaler Formen im Mittelalter, das von Kampf und Krieg, Streit und Konflikt über Rivalität und Konkurrenz bis zu Wettbewerben und Disputen reicht.2 Dies weckt Wünsche nach Differenzierungen: Sind nicht destruktive Kollektivkämpfe wie Krieg von Spielformen des Wettkampfs abzugrenzen?3 Unterscheidet sich nicht auch im Mittelalter gewaltsame Konfliktaustragung von jenem »zweckfrei[en] Tun« des Vergleichs,4 das Jacob Burckhardt als Kennzeichen des künstlerischen Agon betrachtete, der jegliche »Kolonialisierung des Anderen« vermeide?5 Wenn in mediävistischen Zusammenhängen vom Agonalen die Rede ist, werden Streit und Konflikt dadurch nur zu oft in Gegensatz zum Freiheits- und Reflexionsraum der Kunst gebracht. Entweder handelt man sich damit jedoch historisch unangemessene, zumindest schwierig auszuräumende Konnotationen der Autonomieästhetik ein –6 oder man muss gerade jene emphatischen Wirkungszuschreibungen des Künstlerischen abschwächen, denen sich das Konzept des Agonalen zuallererst verdankte.7 Könnte es dann nicht Auswege eröffnen, auf strukturelle Minimalkriterien des Wettstreits zurückzugreifen? Auch für Streitgedichte des Mittelalters ist schließlich davon auszugehen, dass sie mindestens zwei Sprecherpersonen dialogisch in Beziehung setzen und deren Positionen wechselweise miteinander konfrontieren.8 Allerdings: Das spezifische Konfliktprofil und seine Dynamik erfassen strukturelle Minimalkriterien meist nicht näher. Erweitert man an dieser Stelle den Blick von kulturgeschichtlichen und philologischen Ansätzen zu soziologischen Traditionen der Streit- bzw. Konflikttheorie, stößt man auf jüngere Angebote, die vor allem zwischen dem Streitverhalten individueller Akteure und sozialen Konflikten, zwischen personaler Rivalität und systemischer Konkurrenz unterscheiden. Weitere Anregungen könnten darin bestehen, kämpferische Interaktion und Kommunikation hinsichtlich ihrer symbolischen Mittel und normativen Bezüge, hinsichtlich der Grade ihrer Ritualisierung (Schemata und Scripts des Wettkampfs) und Aspekte ihrer Institutionalisierung (Regeln und Rahmungen des Wettkampfs) zu differenzieren.9 Innerhalb der Theorietradition der Soziologie verdanken sich solche und andere analytische Gesichtspunkte jedoch ihrerseits Diskussionsverschiebungen, die für das Interesse an vormodernen Wettkampfformen nicht unerheblich sind. Während Georg Simmel noch in erster Linie ein Kontinuum von paradoxen Streitformen aufzuzeigen versuchte, bemühte sich die an Simmel anschließende Tradition eher um Trennung und Ausdifferenzierung von Sphären, die Simmels Pionierarbeit als verbunden betrachtete. Im Unterschied zu jüngsten Beiträgen zur Konflikttheorie bietet Simmels wegweisende Studie hingegen keinen trennscharfen Begriff des Streits.10
Grundlegender als die Frage, welche Merkmale vormoderne Wettkämpfe auszeichnen, könnte daher vielleicht sein, inwiefern eine Definition distinktiver Merkmale überhaupt historisch angemessen sein könnte. Weshalb aber sollte sich die Untersuchung dann an den Wettkampfbegriff halten, wenn dieser doch in der Neuzeit zunehmend an regelgeleitetes, in hohem Maße koordiniertes oder gar kooperatives Verhalten in herausgehobenen Arena-Situationen denken lässt?11 Kurzum: Fasst der Titel ›Wettkampfkulturen‹, so griffig er zunächst klingen mag, nicht höchst Ungleichartiges zusammen, das entschieden zu differenzieren wäre?
Damit sind nicht nur Etikettierungsprobleme aufgerufen, die man leicht mit dem Hinweis entkräften könnte, dass ›Wettkampf‹ ebenso wenig wie ›Kultur‹ zum Vokabular volkssprachlicher Texte des Mittelalters gehört und daher als Forschungskonzept eingeführt werden kann. Wie jedoch Beate Kellner und Peter Strohschneider in einer grundlegenden Studie zur »Poetik des Krieges« zeigen konnten, nutzt etwa die Sangspruchdichtung Metaphern des kriegens durchaus, um ihren textuellen Status und Bedingungen ihrer Reproduktion zu reflektieren.12 Es gibt also durchaus Bezüge zwischen Objekt- und Untersuchungsbegiffen; volkssprachliche Wettkampfbezeichnungen verweisen durchaus auf reflexive Potentiale, auch wenn diese meist nicht begrifflich zugespitzt,13 sondern öfter performativ inszeniert, narrativ entfaltet oder imaginativ vor Augen geführt werden. Zugleich verdeutlichte die Studie von Kellner und Strohschneider: Auch Annäherungen über die historische Semantik münden in jenes methodische Spannungsfeld, auf dem Selbstbeschreibungen mittelalterlicher Texte und mediävistische Fremdbeschreibungen auseinander laufen. Deutlich wird dies, sobald Kellner und Strohschneider die volkssprachliche Poetik des kriegens im Rückgriff auf Konzepte der »Agonalität« und »Dialogizität« erläutern: Literarischer kriec erzeuge im Zusammenwirken aggressiver und kooperativer Dimensionen paradoxe Spannungen zwischen Abbruch und Fortsetzung, die Wettkampfkommunikation auszeichne.14 Für eine Kulturtheorie der paradoxen Produktivität von Wettkämpfen sind solche Überlegungen ohne Frage attraktiv. Doch lassen sie die Frage offen, wie das »Selbstbeschreibungsvokabular« der Objektebene mit Konzepten der wissenschaftlichen Fremdbeobachtung methodisch zu vermitteln ist.15 Denn sofern die ›Poetik des Krieges‹ gerade nicht an Begriffen historischer Texte selbst zu fassen ist, dann ist diese Lücke kaum auf dem Weg historischer Begriffssemantik zu schließen. Schwer jedenfalls ist sie durch moderne Strukturbegriffe wie ›Agonalität‹ und ›Dialogizität‹ zu füllen, die jeweils eigenen Explikationsbedarf aufwerfen und in eigene Theoriekontexte führen.
Weiter könnte es führen, die Frage nach vormodernen Wettkampfsemantiken gezielt um die Inszenierungsmodi, Erzählformen und Bildentwürfe volkssprachlicher Wettkampfliteratur zu erweitern. Auch dabei ist Vorsicht gegenüber ›großen Erzählungen‹ geboten. Kaum wird man etwa moderner Streitkultur pauschal eine höhere Komplexität unterstellen dürfen;16 vormoderne Kampfkulturen entwickeln ebenfalls vielfältige Varianten, die auf verschiedene symbolische Ressourcen zurückgreifen, Normen stabilisieren, soziale Rahmen reflektieren und Formen verfestigen, ohne schlicht auf Reduktion zu zielen. Keineswegs wirken vormoderne Wettkampfmuster vornehmlich ordnungskonservativ. Im Gegenteil: Eindrücklich bezeugen etwa die zahlreichen Wettkampferzählungen isländischer Sagas, wie offene Rechtslagen und Fragen gesellschaftlicher Ordnung im Zuge der Kolonisierung flexibel über Wettkampfrituale ausgehandelt wurden.17 Weder lässt sich aus dominanten Wettkampfformen wie z.B. wettbewerblicher Konkurrenz schließen, gegenwärtige Gesellschaften seien von Wettkampf generell dichter durchdrungen;18 noch wird Wettkampf erst in der Moderne zum Sonderthema sozialer Selbstbeschreibung.19
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