Auf der anderen Seite gibt es da den Leser, der sich an einem völlig anderen Ort im Rhythmus des Engagements oder des Kontakts befindet, mit einem ganz anderen Spektrum wahrgenommener Gefühle, Bedürfnisse und Befürchtungen, die den Grund für die Figur des Kontakts in diesem Augenblick organisieren und die wiederum den Zugang zu dem umfassenderen Kontakt prägen, der vor ihm liegt. Aufmerksamkeit oder Ablenkung, Aufregung oder relative Gleichgültigkeit, Offenheit oder Vorsicht, Skepsis, Vertrauen, Einvernehmlichkeit mit einer Autorität, Abwehrhaltung gegenüber der zuvor erwähnten Begegnung seitens des Autors oder die Hingabe des Selbst an diese – sie alle sind in ihren möglichen Mischungen und Schattierungen an der dynamischen Organisation der Kontaktgrenze des Lesers beteiligt; und diese ist nicht, wie Goodman sagt, ein Punkt oder ein Ort, sondern vielmehr ein Prozess, der »Ausdruck einer bestimmten Beziehung«; und das ist gleichzusetzen mit Kontakt (Perls u.a. 1951, 269). Der wahrgenommene Zweck oder das empfundene Bedürfnis, um Kurt Lewin zu umschreiben (und dabei das Hauptargument des ersten Kapitels vorwegzunehmen), organisieren die Begegnung auf beiden Seiten – innerhalb der gegebenen Bedingungen und mit der Unterstützung oder der Begrenztheit der besonderen Fähigkeit jeder Person zu einer flexiblen Bandbreite von Haltungen oder Zugehensweisen, die für jene intendierten Ziele und Bedingungen angemessen sind (welche jeweils das besondere Thema der Psychotherapie sind).
Mit anderen Worten, ich habe mit einigen wenigen Strichen die Grundzüge wenigstens eines Kontaktmoments entworfen, der auf komplexe Weise organisiert und höchst politisch ist (in dem Sinn, dass er mit Beziehung oder Einfluss zu tun hat), der allerdings sehr weit entfernt von dem platonischen Ideal Perls’ und Goodmans von einer »klaren, leuchtenden Figur [ist], die frei fließend aus einem leeren Hintergrund mit Energie gespeist wird« (Perls u.a. 1951, 299; Hervorhebung G.W.). Und das Hauptereignis hat noch nicht einmal stattgefunden!
Unter den gegebenen Bedingungen für Kontakt, also den Zielen und Strukturen beider Seiten im Hintergrund, ist es daher nicht erstaunlich, wenn Autoren ihre Einführungen gewöhnlich dazu benutzen, um das Erreichen eines volleren Kontakts in der Zukunft, der in der Begegnung mit dem Haupttext besteht, vorzustrukturieren oder wenn möglich zu beeinflussen. Normalerweise geschieht dieser Versuch in Form einer Führung durch oder einer Übersicht über die Landschaft, die vor uns liegt, wobei verschiedene Sehenswürdigkeiten hervorgehoben und Klippen verkleinert oder umgangen werden. Dabei wird besonders darauf hingewiesen, wo der Leser am anderen Ende herauskommen sollte und welches der richtige Weg ist, um dorthin zu gelangen. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber es sollte jetzt klar sein, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Landkarte handelt, wie sie einem naiven Reisenden von einem wohlmeinenden, aber wenig engagierten Führer – falls es so etwas geben sollte! – in die Hand gedrückt werden könnte, sondern vielmehr um ein höchst parteiisches Dokument, eine Einladung, den Kontaktprozess selbst in einer ganz bestimmten Weise (und nicht in einer anderen), auf einer Landkarte, gemäß bestimmten, vorher vereinbarten Merkmalen des Grundes abzubilden. Und wieder sind wir nach ein paar Abschnitten bei einem der grundlegenden Eckpfeiler der philosophischen Kritik von Goodman und Perls an der »etablierten« Psychotherapie jener Zeit angelangt, nämlich der radikalen, positiven Neubewertung des leidenschaftlichen Begehrens als dem entscheidenden Weg zur Wahrheit und zu angemessenem Handeln – in scharfem Kontrast sowohl zu den klassischen Freudschen Ansichten als auch in gewisser Hinsicht zu den östlichen mystischen Überzeugungen von der Erleuchtung durch Objektivität, Sublimation oder Entrückung. Lassen Sie mich in gleicher Weise (in Vorwegnahme vieler nachfolgender Argumente) den Widerstand des Lesers als das eigentliche Zeichen für leidenschaftliches oder aktives Engagement im Kontaktprozess selbst anerkennen und wertschätzen und nicht als ein Blockieren oder Sabotieren dieses Prozesses.
So weit, so gut; aber es besteht mindestens noch ein weiteres Risiko für diese Art einer parteilichen Einführung: Im Verlauf der Kartierung des Geländes, das vor uns liegt, und bei dem Versuch, die verschiedenen Stadien der Reise so darzustellen, als folgten sie nahtlos und notwendigerweise nacheinander, kann es geschehen, dass die gesamte Argumentation des Buches einen strengeren logischen Charakter, eine linearere Erscheinungsform erhält, als dies bei der ursprünglichen Entwicklung der Fall war, die eher organisch war, sprunghaft vor- und zurückging und sich von einer zentralen Idee her zu den einzelnen Komponenten hin verzweigte – mit einem Wort: eher »Gestalt« war. In einem solchen Prozess kann es vorkommen, dass die zentralste These eines Buches, die grundlegendste Idee, die die einzelnen Teile durchdringt und organisiert, nirgends klar formuliert wird (wie die Neueinschätzung des Begehrens, die dem zweiten Band von Gestalttherapie zugrunde liegt, nicht direkt in dem Buch erörtert wird). Ich möchte daher die organisierende Grundidee formulieren, bevor ich mit der Landkarte für die einzelnen Kapitel beginne: dass nämlich das Kontaktmodell, das uns von Goodman und Perls überliefert und durch viele nachfolgende Autoren ausgearbeitet wurde, im theoretischen Sinn figurgebunden ist; dass die Analyse dieses Kontaktprozesses (oder der Bewusstheit oder der Erfahrung) unvollständig ist ohne direkte Berücksichtigung der Organisationsprinzipien oder Strukturen des Grundes, die in einigen Fällen über die Situationen und über die Zeit hin wirksam sind, und die die Figuren im Kontakt selbst beeinflussen und beschränken; dass Psychotherapie (oder jeder andere Veränderungen auslösende Prozess) immer eine Angelegenheit der Neuorganisation der Strukturen des Grundes über die Zeit hin ist und nicht nur der Kontakt-Figuren im Augenblick; dass diese Überbetonung der Figur für das Gestaltmodell, zumindest in theoretischer Hinsicht, ein Handicap bei der Bearbeitung einer Fülle klinischer und systemischer Prozesse war; dass das Modell von Goodman und Perls einige Verzerrungen und innere Widersprüche enthält, die die Entfaltung des vollen Potentials dieses Modells behinderten; und schließlich, dass die Revision dieser widersprüchlichen Annahmen die Formulierung eines Modells ermöglicht, das bestimmte neue Chancen eröffnet – nämlich die Neueinschätzung von »Widerständen« und die Möglichkeit, »klinische« und »organisatorische« Probleme zum ersten Mal mit denselben theoretischen Begriffen anzupacken. All dies sind Variationen der gleichen Grundidee, nämlich der Hinwendung der ungeteilten Aufmerksamkeit in der Gestaltanalyse auf das Problem der Strukturen des Grundes. Dies ins Blickfeld der Aufmerksamkeit zu rücken, ist der Zweck dieses Buches.
Um den Weg für diese Diskussion zu bereiten und dabei auf besondere, bisher nicht beschrittene theoretische Wege hinzuweisen, werde ich zunächst im ersten Kapitel an den Anfang dieses Jahrhunderts zurückgehen, um einiges von der faszinierenden und revolutionären Arbeit der ersten Generation akademischer Gestaltpsychologen in den Blick zu nehmen (zu nennen sind hier insbesondere Wertheimer, Koffka, Köhler und deren Nachfolger); ihre Arbeit war von so bedeutendem Einfluss, dass es unmöglich ist, sich heute irgendeine Psychologie vorzustellen, nicht einmal eine eindeutig »behavioristische«, die nicht grundlegend gestaltorientiert wäre. Von dort werde ich mich den Auswirkungen dieser Arbeit auf das zuwenden, womit sich die zweite Generation der »Gestaltschule«, besonders Lewin und Goldstein, beschäftigte – und zwar nicht deshalb, weil deren weitreichende Differenzierungen des ursprünglichen Wahrnehmungsmodells im Bereich der Persönlichkeit und des Verhaltens das Modell von Goodman und Perls direkt beeinflusst hätten, sondern weil dies seltsamerweise gerade nicht geschah. Die Gründe hierfür werden im zweiten und dritten Kapitel näher behandelt. Dabei werde ich bewusst eine Position einnehmen, die im Gegensatz zu denen von Henle (1978), Arnheim (1949) und (manchmal) von Perls selbst (vgl. z.B. 1969b) steht. Sie alle behaupteten, dass zwischen der eigentlichen Gestaltpsychologie und dem Modell der Gestalttherapie keine wichtigen oder überhaupt keine Zusammenhänge bestünden. Im Gegensatz dazu werde ich im ersten Kapitel (und auch in den folgenden Kapiteln) zu zeigen versuchen, dass es unmittelbare und bedeutsame Zusammenhänge gibt, auch wenn sie nicht immer vollständig entwickelt wurden. Perls selbst spürte diese Verbindung zwar zunächst, formulierte sie jedoch in seinem frühen gemeinsamen Werk mit seiner Frau Laura Perls Ich, Hunger und Aggression (Perls 1947), nicht sehr klar aus.
Diesem frühen Werk der beiden Perls’ werde ich mich im zweiten Kapitel widmen. Aus der Perspektive des späteren Gestaltmodells ist dieses Buch bestenfalls »skizzenhaft« (um Perls’ eigenen