Kurz entschlossen ging Tanner auf die Eingangstür zu.
Der Laden war leer, nicht einmal die Zwillinge waren zu sehen. Tanner wunderte sich, denn Solène und Solange ließen ihren Laden nie unbeaufsichtigt. Wenn sie mal kurz weggingen, schlossen sie normalerweise die Tür und hängten einen Zettel daran. Plötzlich hörte er im hinteren, für die Kundschaft nicht zugänglichen Bereich jemanden schluchzen.
Hallo? Solène? Solange? Ich bin’s, Tanner!
Einen Moment lang war es still, dann fiel etwas zu Boden. Tanner näherte sich dem Durchgang. Plötzlich stand Solange vor ihm, die Augen voller Tränen.
Ach, es ist schrecklich, Tanner. Wir fürchten uns alle. Ist an Ihrer Haustür auch so ein schreckliches Zeichen?
Nein, Solange. Es gibt aber noch andere Haustüren ohne Zeichen. Woher wissen Sie das?
Ich habe nachgeschaut, ganz einfach. Jetzt beruhigen Sie sich, Solange. Es wird sich alles klären. Setzen Sie sich erst mal auf diesen Stuhl.
Tanner nahm eine Packung Papiertaschentücher aus einem Regal, riss die Packung auf und reichte Solange eins.
Danke. Aber wissen Sie denn, was das zu bedeuten hat?
Nein, das weiß ich leider noch nicht. Aber wir werden es erfahren, da bin ich mir ganz sicher.
Aber die Zeichen bedeuten doch alle den Tod, nicht wahr?
So vorschnell sollten wir nicht urteilen, Solange. Warum sind Sie eigentlich allein im Laden? Wo ist denn Ihre Schwester?
Solène muss schnell eine Nachbarin nach Hause begleiten.
Warum denn das?
Sie hat sich plötzlich gefürchtet, alleine auf die Straße zu gehen.
Was für ein Unsinn. Fürchten Sie sich denn auch?
Fürchten nicht gerade, aber ein bisschen unheimlich finde ich es schon. Wer um alles in der Welt kann denn so etwas gemacht haben?
Das weiß ich natürlich auch nicht. Dumme Jungs wahrscheinlich, denen langweilig war.
Tanner gab sich alle Mühe, überzeugend zu sein, obwohl er seine eigene Behauptung ziemlich übermütig fand. In diesem Moment kam Solène zurück.
Ah, Monsieur tröstet unsere Solange. Störe ich?
Solange richtete sich sofort auf.
Spinnst du? Aber ich war froh, nicht mehr allein zu sein, ich gebe es zu.
Und wie erklären Sie sich, dass Ihre Haustür von diesen Schmierfinken verschont geblieben ist?
Guten Tag, Solène. Dafür habe ich keinerlei Erklärung. Meine Haustür ist aber nicht die einzige, die verschont wurde. Ihr Laden wurde auch ausgelassen.
Ja, klar. Da wohnt ja auch niemand.
Und die Kirche? Wer wohnt dort, Solène?
Was? Die Kirchentür haben die auch verschmiert? Schweinebande!
Warum denken Sie, dass es mehrere waren?
Weiß ich nicht. Aber immer wenn in dieser Gegend Unsinn gemacht wurde, steckte eine ganze Bande dahinter.
Was haben die denn so gemacht?
Ja, zum Beispiel das Feuer für den ersten August am Vorabend angezündet. Oder den Leuten die Fahrräder vertauscht. Oder dem Dorflehrer bei zehn verschiedenen Firmen Taxis bestellt.
Ich weiß nicht, ob das in dieselbe Kategorie fällt. Und ob es sich um eine Gruppe handelt, bezweifle ich.
Was glauben denn Sie, Herr Tanner?
Ich finde, die Zeichen haben eine eindeutige Handschrift. Es könnte sich sehr wohl um eine Einzelperson handeln. Aber das muss man natürlich näher untersuchen.
Solange blickte ihn mit großen Augen an. Dann zog Solène ihre Schwester vom Stuhl hoch.
Ja, ich glaube, die Polizei hat damit schon begonnen. Ein Streifenwagen ist soeben gekommen. Weiter vorne im Dorf. Die Gruber hat stellvertretend für alle Anzeige gegen unbekannt erstattet.
Na ja, dann ist ja alles in besten Händen. Warum ich eigentlich gekommen bin: Würden Sie mir die Ehre erweisen und heute Abend bei mir speisen? Wie dumm von mir, die bedruckten Einladungskarten mit Goldprägung habe ich jetzt prompt vergessen. Ein guter Freund aus einem befreundeten Kanton wird auch noch zu Gast sein. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie ja sagen würden.
Die Schwestern schauten sich einen Moment an. Solène antwortete für beide.
Selbstverständlich erweisen wir Ihnen die Ehre. Um wie viel Uhr?
Punkt acht, wenn ich bitten darf. Meine Adresse ist Ihnen ja bekannt. Ah, ja. Sie sind beide keine Vegetarier, äh, ich meine, Sie sind keine Vegetarierinnen, oder?
Diesmal war Solange schneller.
Gott bewahre, nein. Wir sind große Fleischanbeterinnen.
Dann verabschiedete man sich.
Wieder draußen auf der Straße, sah Tanner tatsächlich einen Streifenwagen. Die beiden Beamten liefen gerade von einem Hauseingang zurück zu ihrem Wagen.
Guten Tag, die Herren. Mein Name ist Tanner. Ich bin ein Freund und Berufskollege von Kommissar Michel. Sie untersuchen die Zeichen an den Haustüren?
Guten Tag. Wagner. Das hier ist mein Kollege Stoffel. Haben Sie uns etwa gerufen?
Nein, nein. Das war Frau Gruber von der Gemeindeverwaltung. Zudem ist meine Haustür eine der wenigen, die nicht bemalt wurde. Soweit ich gezählt habe, sind etwa sieben Türen im ganzen Dorf nicht bemalt.
Da haben Sie ja Glück gehabt.
Wie man’s nimmt. Was halten Sie denn davon, Wagner?
Der Beamte zog seine Mütze aus und strich die Haare glatt.
Wahrscheinlich ein dummer Streich. Natürlich ärgerlich das Ganze, aber ich würde da nicht viel machen. Schwamm drüber!
Also, ich meine, schnellstens abwaschen und vergessen.
Die beiden Polizisten grinsten etwas verlegen. Es war offensichtlich, dass sie nicht so recht wussten, was sie mit der ganzen Sache anfangen sollten.
Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, meine Herren?
Ja, was denn?
Ich würde als erstes die Leute bitten, vorerst gar nichts abzuwaschen. Dann würde ich von zwei bis drei verschiedenen Türen Materialproben nehmen und ins Labor bringen.
Wieso denn das?
Haben Sie sich die sogenannte Farbe denn mal näher betrachtet? Nein. Wieso auch. Es ist halt irgendeine Farbe, die man sprayen kann.
Es tut mir leid, ich muss Sie korrigieren. Erstens wurde hier eindeutig mit einem Pinsel gearbeitet und zweitens könnte es sein, dass es sich bei dem aufgetragenen Material möglicherweise um etwas anderes als Farbe handelt.
Um was denn?
Es war Stoffel, der die Frage ziemlich forsch stellte.
Möglicherweise handelt es sich um Blut, meine Herren.
Die beiden Beamten schauten sich etwas perplex an.
Auf den Arm nehmen können wir uns selber!
Das glaube ich Ihnen ungefragt, meine Herren. Meine erste These können Sie gleich an Ort und Stelle kontrollieren, wenn Sie sich eines der Zeichen genauer anschauen. Vielleicht entdecken Sie sogar ein Pinselhaar, aber ganz sicher können Sie den Pinselstrich erkennen.