Die Familie von Saalen, der das Gut gehörte, hatte seit Generationen einen bedeutenden Namen in der Pferdezucht. Der Alte von Saalen war zwar seit Jahren tot, aber seine Frau schien alles im Griff zu haben. Einer der beiden Söhne, so hieß es, sei als junger Mann von einem Pferdehuf schwer am Kopf verletzt worden und habe sich nach Jahren der Qual und der langsamen Verblödung mit einem Karabiner erschossen. Er habe offenbar in einem hellen Moment seine hoffnungslose Situation realisiert und sofort die Konsequenzen gezogen. Den anderen Sohn hatte Solène wörtlich einen ziemlichen Luftikus und Tunichtgut genannt. Über die Tochter hatte sie etwas mildere Worte gefunden.
Tanner wandte seinen Blick ab und setzte seinen Weg fort. Da er die Leute noch nie zu Gesicht bekommen hatte, hatte er sich auch noch keine eigene Meinung bilden können.
Er verließ die Hauptstraße nach rechts. Der Weg führte in Richtung See, zur alten Werft und zum Yachthafen. Links vom Hafen gruppierte sich eine Anzahl kleinerer und größerer Wochenendhäuschen zu einem kleinen Außenquartier des Dorfes. Die Häuser waren zum Teil in Selbstbaumanier mehr schlecht als recht zusammengezimmert. Die meisten waren offensichtlich über die Jahre immer wieder mit kleinen Anbauten erweitert worden. Material- oder Formabstimmung schien hier ein Fremdwort zu sein. Wellblech, Mauersteine, Beton, Holz roh, Holz bemalt, jegliche Art von Folie und Plastik, sogar Styropor bildeten die Baumaterialien. Alles in allem kein schöner Anblick. Eine ästhetische Absicht hinter dem Prinzip des Nichtzusammenpassens war dabei weit und breit nicht zu erkennen. Die Einheimischen nannten das wild entstandene Quartier politisch ziemlich unkorrekt das Negerdorf. Kürzlich hatten ein paar Neureiche, die ebenso wenig von Stilgefühl belastet waren, als Ergänzung zum Jahrmarkt der Hässlichkeiten noch ein paar protzige Pseudovillen dazugebaut. Tanner versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass man das alles auch als Ausdruck eines freien Willens interpretieren könnte. Die Hässlichkeit würde so betrachtet zu einer zwar ärgerlichen, aber unausweichlichen Dreingabe unserer Zeit.
Viel lieber aber betrachtete Tanner den langgestreckten Hügel jenseits des Sees, ein Anblick, den er aus seinem Fenster frühmorgens als erstes genoss, ohne dass er sich je an dieser sanft geschwungenen Linie satt gesehen hätte oder seines Anblicks gar überdrüssig geworden wäre. Und jetzt war er, dieser grandioseste Hügel aller Hügel, auch noch mit Schnee bedeckt, was die Erotik seiner Linienführung schärfer denn je hervorhob.
Die Tore der alten Bootswerft waren heute Morgen noch allesamt verschlossen. Normalerweise trat Tanner in die Hallen und begutachtete interessiert die Boote und Schiffe, die gerade in Arbeit waren. Meist endeten diese Besuche im Büro des Werftbesitzers, mit dem man äußerst angeregt plaudern konnte. Heute ließ er die Werft links liegen und ging direkt zum ehemaligen Gebiet der alten Zementfabrik hinüber, die vor einiger Zeit ziemlich aufwendig zum Hafen für kleine und große Yachten umgebaut worden war.
Tanner war auf die Farbe des Wassers gespannt, denn er hatte den See noch nie im Schneekontrast erlebt. Er kannte und liebte all die Schattierungen vom hellsten türkisblau bis zu den abgrundtiefsten Blau- und Grüntönen. Oder all die Weiß- und Grautöne der aufgebrachten Gischt, wenn der Joran über den Hügel brauste und den stillen Seespiegel von einem Moment auf den anderen zu einer dramatischen Meeresoberfläche aufwühlte.
Durch den ungewohnten Schneehintergrund und den von Wolkenfetzen bedeckten Himmel changierte die Farbe des Wassers zwischen grau und violett. Tanner wischte einen großen Stein an der Mole schneefrei, setzte sich trotz der Kälte hin und beobachtete das schillernde Farbenspiel.
Nach einer Weile holte es ihn wieder ein. Es geschah zwar immer seltener, aber heute Morgen passierte es. War es die Farbe des Wassers? Der See sah heute Morgen wirklich traurig aus. Zudem hatte Elsie die Farbe Violett ganz und gar gehasst. Sie hatte ihm mal gesagt, violett sei für sie die Farbe des Todes. Auch assoziierte sie die Farbe mit der katholischen Kirche, und die mochte sie überhaupt nicht. Eine Religion, die neugeborenen Kindern die Erbsünde auferlegte, war für sie inakzeptabel. Dass daher Kinder ohne Taufe auf dem direkten Weg in die Hölle kämen, sei ihrer Meinung nach krank. Zumindest lebensfeindlich. Und jetzt war Elsie selber tot.
Tanner stützte den Kopf auf seine Hände.
Warum konnte er nicht wie ein Kind einfach denken, dass Elsie im Himmel war und es gut hatte? Dass sie den ganzen Tag auf einer Wolke saß und über sein Leben wachte und das ihrer Kinder? Und zwischendurch mit den Engeln fröhliche Lieder zu Ehren Gottes sang?
Er schaute hinauf zu den grauen Wolken.
In den dreizehn Monaten, die er Tag für Tag an ihrem Bett verbracht hatte, war auch er versucht gewesen – wie viele in ähnlicher Situation – eine Art Kuhhandel abzuschließen. Wenn Du sie aufwachen lässt, glaube ich an Dich. Es hatte aber nicht funktioniert, sie war gestorben. Ihren schönen Körper gab es nicht mehr. Der war verbrannt. Das Häufchen Asche lag eingeschlossen in einer tönernen Urne und wartete darauf, in der Mitte des Sees verstreut zu werden. Diesen Wunsch hatte sie unvermittelt in einer ihrer Liebesnächte geäußert, und keiner hatte geahnt, wie schnell er Wirklichkeit werden sollte. Die Urne stand immer noch im leeren Schrank in einem der Zimmer, das er seit dem Tag, an dem er die Urne eingeschlossen, nicht mehr betreten hatte. Und er würde es so schnell auch nicht wieder betreten.
Tanner sprang von seiner kühlen Raststätte auf und setzte den Spaziergang fort.
Er war mittlerweile auf der Höhe des Bahnhofrestaurants angekommen, das gerade Betriebsferien hatte. Er liebte diesen Ort mit seiner einfachen Küche, den liebenswürdigen Besitzern und der heimeligen Gaststube. Und die Sommerabende an den Tischen unter dem Birnenspalier konnte man getrost als eine Form der reinen Poesie bezeichnen.
Der Bahnhofsplatz sah auch bei Schnee öde und verlassen aus. Hingegen übten die jenseits des Bahnhofs liegenden Gebäude auf Tanner stets den gleichen Zauber aus. Es war ein altes Herrschaftshaus, zu dem einer der größten Bauernhöfe des Dorfes gehörte. Der Gemeindepräsident – ein großer, knochiger Mann – und sein Bruder bewirtschafteten diesen Hof als Pächter. Die Herrschaft selbst war nur einmal pro Jahr vor Ort, an Weihnachten, um den Pachtzins einzukassieren, wie die Einheimischen in beinahe ehrfürchtigem Ton erzählten. Sämtliche tiefgrünen Fensterläden des großen Hauses waren also die meiste Zeit verschlossen. Mitunter bekam eine vertraute Person den Auftrag, das Haus zu lüften und zu reinigen. Dann standen für wenige Stunden einzelne Fenster plötzlich weit offen.
Das verschlossene Haus erinnerte ihn an die traurige Novelle über das vermeintlich gemütskranke Mädchen Susanna, das durch seinen Vormund in genau so einem Herrschaftshaus eingesperrt gehalten wurde. Sogar die Läden sollte es immer geschlossen halten, damit niemand ihre Schönheit entdecken konnte – und sie nichts von der Welt. Ein junger Mann hatte trotzdem das Glück, sie zu Gesicht zu bekommen, und die beiden verliebten sich unsterblich ineinander. Sie unterhielten sich jeden Abend im Schutz der Dunkelheit durch einen Schlitz im Fensterladen. Als der junge Mann für längere Zeit in die Hauptstadt fahren musste, gelang dem Mädchen die Flucht, und sie machte sich im tiefen Winter auf, immer der Eisenbahnlinie entlang, die in unmittelbarer Nähe ihres Hauses verlief. Genau wie hier. Der Bahnhofsbeamte hatte nämlich dem unerfahrenen Mädchen im Scherz geraten, wenn sie kein Geld habe und in die Hauptstadt wolle, müsse sie nur den Schienen folgen. Was sie dann auch tat. Nach einem langen Stück Wegs wurde sie müde, legte sich in den Schnee und erfror.
Die Trauer um das Schicksal des Mädchens war allerdings leichter zu ertragen als die andere, die immer noch wie ein Messer schnitt.
Die nächste Station zum Verweilen wäre die kleine Badeanstalt mit ihren altmodischen Holzkabinen und dem malerischen Steg, der weit in die kleine