In einem abgelegenen Schweizer Dörfchen sind eines Morgens alle Türen mit Zeichen aus Katzenblut bemalt. Bis auf sieben. Kurz darauf wird eine grausam verstümmelte Leiche gefunden, und ein Zwillingspaar verschwindet spurlos. Sie alle waren Bewohner der sieben Häuser ohne Blutzeichen an der Tür. Simon Tanner, der seit seinem freiwilligen Abschied aus dem Polizeidienst in dem nebelverhangenen Dorf wohnt, begibt sich auf die Spur. Zusammen mit seinem Freund und ehemaligen Kollegen Kommissar Serge Michel entdeckt er, dass es sich bei dem Blut an den Türen um alttestamentarische Schutzzeichen handelt. Missgunst, Ränkespiele und lang unterdrückte blutige Geheimnisse tun sich hinter der idyllischen Dorfkulisse auf. Erst die Erwähnung einer selten gewordenen Apfelsorte bringt Tanner auf die Spur einer längst vergessenen Gewalttat.
Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspiel-Regisseur und war Schauspiel-Direktor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003 bis 2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006 bis 2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. «Wintertauber Tod» ist der dritte von vier Kriminalromanen mit dem charismatischen Ermittler Simon Tanner. Urs Schaub lebt in Basel.
Foto Yvonne Böhler
Wüsste man, wer diese Notizen macht.
aus
Monsieur Traum Robert Pinget
JAHRE ZUVOR
Das Ganze begann mit einem Fehler.
Genau genommen gibt es in solchen Fällen natürlich keinen Anfang. Aber den Fehler gab es, und er war schlimm. Bemerkt hat ihn trotzdem keiner.
Am wenigsten der Mann, der ihn machte.
Wenn ein in der Regel zuverlässiger Beamter auf einem labyrinthisch weit verzweigten Rangierbahnhof die erste Weiche falsch stellt, was dann?
Der weitere Weg des heranrollenden Güterwagons wäre zwar falsch, aber dennoch klar vorgegeben. Mit unvorhersehbaren Folgen. Im besten Fall würde der Waggon an einem falschen Ort zu stehen kommen, im schlimmsten einen Unfall verursachen. Unabhängig davon, aus welchem Grund der Weichensteller den Fehler gemacht hat.
Aber man würde ihn bemerken. Den Fehler.
Vielleicht hat der Beamte am Stellwerk, wie seit Tagen, an diese elende Summe gedacht, die in seinem Sparbuch steht und die seine Zukünftige nach wie vor als zu bescheiden bezeichnet, um ihn zu heiraten. Vielleicht hat er sich deswegen verzweifelt über Möglichkeiten zur Vermehrung besagter Ersparnisse den Kopf zerbrochen. Und wer weiß, vielleicht hat ihn die sehnlichst erwünschte Geldsumme so sehr abgelenkt, dass er die Weiche, ohne es zu merken, falsch betätigte. Möglicherweise würden dadurch einige eilige Güter erst Tage danach wiedergefunden, dazu noch verdorben, und die Eisenbahngesellschaft würde eine Konventionalstrafe zahlen müssen, die das besagte elende Sümmchen des Weichenstellers um ein Vielfaches übersteigt. Wahrscheinlich würde er in der Folge seine Stelle verlieren, sich aus Verzweiflung dem Suff hingeben, denn das Einzige, was er in seinem Leben gelernt hat, ist Weichenstellen, und er würde fortan aus Verzweiflung … und so weiter.
Inmitten dieser Spekulationen bliebe eine Wahrheit unveränderlich: Der Güterwaggon stünde trotzdem am falschen Ort.
Manz wusste nichts von derart komplexen Gedankengängen.
Er fühlte sich einfach verpflichtet, die Leiche zuzudecken. Schließlich war es bitterkalt, und zudem sah der offene Bauch nicht gerade appetitlich aus. Er wollte keine Spuren beseitigen, tat es aber gründlich.
Wie durch ein Wunder war es das erste Opfer einer Gewalttat, mit dem er es in seiner Zeit als Polizist zu tun hatte. Zu seinem Alltag hatte bisher die Kontrolle der Polizeistunde und der Hotelmeldezettel gehört. Immerhin gab es in dem kleinen Straßendorf eine Dorfkneipe mit angeschlossenem Hotel, das vorwiegend von durchreisenden Vertretern frequentiert wurde; ein Restaurant, das gut dreihundert Meter neben dem Bahnhof lag, mit diesem eigentlich gar nichts zu tun hatte und trotzdem Bahnhofrestaurant hieß; sowie ein französisches Gourmetrestaurant mit Gästezimmern. Hier pflegten ab und zu Tänzerinnen zu übernachten, die in einem Nachtlokal auftraten, das zu den wenigen Attraktionen des nahe gelegenen Bezirksstädtchens gehörte.
Vor wenigen Jahren brannten in einer Nacht vier verschiedene Häuser gleichzeitig. Trotz aller Nachforschungen und Untersuchungen der Polizei aus dem Hauptort gelang es nicht, den Täter zu überführen. Das war eigentlich Manz’ schlimmster Fall, obwohl auch damals keine Menschen zu Schaden kamen.
Zu seinen weiteren Pflichten gehörte die Schlichtung unzähliger Nachbar- oder Familienstreitigkeiten (was sehr oft dasselbe bedeutete); die administrative Erfassung von Fahrraddiebstählen und einer Vielzahl weiterer kleiner Delikte, die vor allem eines mit sich brachten: einen unendlichen Fluss an Papieren und Formularen, der ihn mit dem Kommissariat in der Kantonshauptstadt wie mit einer Nabelschnur verband. Schließlich war er einer der letzten Dorfpolizisten im ganzen Land, eine Art Vorposten im Niemandsland zweier zusammentreffender Sprachregionen. Besser gesagt: ein Restposten in einem wirtschaftlich und politisch vergessenen Teil des Landes.
Ob dieser Landstrich deswegen so schön war? Der Dorfpolizist Manz hatte da so seine eigene Theorie. Davon wird viel später noch einmal die Rede sein. Wie auch immer: Nach seiner Pensionierung würde der Posten endgültig eingespart werden, ein Nachfolger war nicht vorgesehen. Das war längst beschlossene Sache. In seinen Augen wurde mit dieser Entscheidung das ganze Gebiet zur rechtsfreien Zone erklärt. Ganz zu schweigen von denen, die Hilfe benötigten!
Vor zwei Jahren hatte den Bahnhofsvorstand dasselbe Schicksal ereilt. Seither hielten am kleinen Bahnhof zwar nach wie vor im Stundentakt Züge, aber alles lief automatisiert ab und wirkte wie ferngesteuert, obwohl die Lokomotiven noch von leibhaftigen Menschen gesteuert wurden. Die Bahnhofsschalter waren mit Brettern vernagelt. Beim Billetkauf war jetzt Schluss mit dem beliebten Schwätzchen, das die Dorfbewohner mit Monsieur Veillon regelmäßig gepflegt hatten. Der Automat empfing per Tastendruck seine Befehle und spuckte leise scheppernd seine schäbigen Tickets aus. Die schönen Fahrkarten aus Karton, zum Teil zweifarbig, die man sammeln und zu ansehnlichen Häufchen hatte stapeln können, gab es längst nicht mehr. Brauchte jemand eine Auskunft, trat er an eine Infosäule, wo sich zu bestimmten Tageszeiten und meist nach langer Wartezeit schnarrend eine Stimme meldete. Der kleine Wartesaal war zum Depot eines Vertreters für Strumpfwaren verkommen.
In der Dienstwohnung des Bahnhofsvorstandes lebte jetzt eine kinderreiche Familie aus den ehemaligen Krisengebieten des Kosovo. Lange Zeit wusste man nämlich nicht, was man mit der leeren Wohnung anfangen sollte. Wer will schon in einem heruntergekommenen Bahnhof wohnen? Genauso ratlos war man gegenüber der Flüchtlingsfamilie, die durch eine administrative Panne der Kantonshauptstadt in dem Dorf gelandet war. Als man sie nicht mehr ab- oder zurückschieben konnte, brachte man sie aus lauter Verlegenheit im Gasthof Zum Hirschen unter. Dort, wo sonst vorwiegend Vertreter übernachteten. Ein paar Tage später erinnerte sich ein Schlauberger aus dem Gemeinderat, der wegen der laufenden Hotelkosten nicht mehr schlafen konnte, an die leere Bahnhofswohnung. Man ließ sich unter fadenscheiniger Begründung von der Heilsarmee einige Möbel schenken – und auch noch gratis liefern – und zwei unangenehme Probleme waren auf einen Schlag gelöst. Die geniale Idee des schlauen Gemeinderates wurde mit reichlich Weißwein begossen.
Kurz darauf – als handelte es sich um einen Virus – schlossen die Schalter des kleinen Postamtes. Demnächst würde, wie gesagt, den Polizeiposten dasselbe Schicksal ereilen, und im nächsten Sommer würde die genossenschaftseigene Käserei für immer dicht machen.
Den Reigen der Schließungen hatte vor einem Jahr ausgerechnet die Kirche begonnen. Die Obrigkeit der Diözese degradierte ohne Voranmeldung die kleine Kirche zu einer Filiale der Nachbargemeinde und suchte für den frühzeitig pensionierten Seelsorger nur noch pro forma einen Nachfolger. Natürlich fand man keinen. Damit war die Sache abgeschlossen, und die Mitglieder der kleinen Kirchgemeinde rieben sich die Augen. Ein frisch eingesetzter Priester aus dem größeren Nachbarort hielt seine Sonntagspredigt fortan also zweimal. Die wenigen Leute, die regelmäßig zum Gottesdienst kamen – es waren vorwiegend ältere Frauen –, meinten die Wiederholung der