Weit weg von allem und weit weg von allen. Auch von seinem Kind. Er bitte alle um Verzeihung. Verständnis könne er keines erwarten. Er müsse sein ganzes bisheriges Leben aus seinem Herzen und aus seinem Körper reißen und er bitte alle, die ihn kennen, ihn zu vergessen. Punkt! Das war's!
Karl öffnet wieder die Augen.
Der Brief wurde nicht, äh … wie sagt man? Angezweifelt. Die haben die Schrift geprüft. Irgendwie.
Und jetzt lacht Karl. Aber es ist kein heiteres Lachen.
Auguste verzichtete großzügig auf eine Anklage wegen des Geldes. Ja, ja! Und der Einfluss der Familie in dieser Gegend war groß genug, so dass keine weiteren Fragen gestellt wurden. Das Kind war ja gut versorgt bei der Familie von Auguste und der Alten. Zumindest materiell. So! Das war's. Aus! Aus die Maus!
Ein letztes gequältes Lachen von Karl beendete seinen Bericht.
Tanner holt das Medaillon aus seiner Jackentasche und hält es Karl unter die Nase.
Woher hast du das?
Hastig greift Karl nach der Kette.
Die Kette gehört doch Rosalind. Nach dem Tod von Lilly hat Rosalind das Medaillon bekommen.
Deswegen ein anderer eingravierter Buchstabe als auf der Reitgerte.
Tanner gesteht ihm, dass er vorhin in der Küche nicht alles erzählt habe und dass er die Reitpeitsche und das Medaillon neben dem Friedhof gefunden habe.
Karl versucht das Medaillon zu öffnen, aber es gelingt ihm auch nicht. Er holt aus seiner Tasche ein Klappmesser und vorsichtig setzt er die Spitze an. Mit einem leisen Klick springt das Medaillon auf. Ein winziges, zusammengefaltetes Stück Papier fällt aus dem Medaillon. Tanner hebt es vom Boden auf.
Schau, Simon, das sind Lilly und Raoul.
Man sieht zwei blass gewordene Minifotografien. Tanner steht auf und geht in die Nähe der Glühbirne. Zwei schmale, ebenmäßige Gesichter blicken ihn sehr ernst an.
Die sehen ja aus wie Zwillinge, sagt Tanner überrascht.
Das stimmt. Karl lächelt, er ist ihm zum Licht gefolgt.
Manchmal haben sie sich einen Spaß draus gemacht, sich als Bruder und Schwester ausgegeben. Und es hat immer funktioniert.
Raoul sieht auf dem Foto tatsächlich aus wie ein russischer Intellektueller. Und sie könnte ohne weiteres beim Bolschoi-Ballett engagiert gewesen sein.
Weißt du, wie sie sich kennen gelernt haben? Sie gingen beide in das gleiche Gymnasium in der Hauptstadt. Zwar nicht in die gleiche Klasse, aber sie haben beide in der Theatergruppe der Schule mitgemacht und haben in einem Stück von, äh …
… von Shakespeare gespielt, und zwar: Wie es Euch gefällt, oder? Wieso weißt du das? Karl ist verdutzt.
Ich vermute es nur. Wegen dem Namen, den sie ihrer Tochter gegeben haben, antwortet Tanner.
Genau! Lilly hat die Rosalind gespielt und Raoul …
… den Jaques, ergänzt Tanner vorlaut. Karl nickt anerkennend.
Es ist mein Lieblingsstück von meinem Lieblingsautor, gesteht Tanner. Ich habe früher auch leidenschaftlich gerne Theater gespielt!
Karl habe nur dieses Stück gesehen, sonst kenne er leider nichts von diesem Dichter. Er sei damals bei der Première gewesen. Ein großer Erfolg für die beiden. Sie hätten später noch oft davon gesprochen.
Tanner gibt Karl das Medaillon zurück und entfaltet den kleinen Fetzen Papier, der vorher aus dem Medaillon gefallen war.
Darauf ist eine Briefmarke und noch schwach erkennbar ein Teil eines Poststempels. Die Briefmarke ist offensichtlich von einem Briefumschlag abgerissen worden.
Tanner hält die Briefmarke noch einmal unter das Licht und erkennt auf der blassbläulichen Briefmarke ein Muster mit merkwürdigen Zeichen.
Ich wette, dass das eine australische Briefmarke ist. Ich glaube, dass diese Zeichen aus der Bildwelt der Aborigines stammen, Karl! Verstehst du! Die Ureinwohner Australiens.
Er gibt das Papier Karl, der damit ganz nahe an das Licht geht.
Wenn du Recht hast, Simon, stammt diese Briefmarke von dem Brief, den Raoul damals geschickt hat. Warum sonst trägt das Kind so einen Fetzen Papier im Medaillon, zwischen den Fotos seiner verstorbenen Mutter und seines verschollenen Vaters?
Ich werde Rosalind einfach danach fragen, wenn ich sie morgen sehe!
Du siehst sie morgen? Karl ruft es ganz erstaunt.
Jetzt erzählt Tanner ihm in Gottes Namen den Rest seiner Geschichte und entschuldigt sich bei ihm, dass er ihm das nicht gleich gesagt hat.
Aber schließlich hätte er bis gerade eben keine Zusammenhänge gewusst.
Karl versteht, macht aber ein sorgenvolles Gesicht.
Versprichst du mir, dass das vorläufig unter uns bleibt?
Tanner nickt und jetzt wird Karl ganz ernst.
Schwöre bei dem Leben, das heute Nacht in diesem Stall auf die Welt kommt, dass das unter uns beiden bleibt. Ruth hat unter dieser Sache lange genug gelitten.
Tanner schwört es selbstverständlich auf der Stelle und steckt das Papier in das Medaillon, bevor er es wieder verschließt.
Laura, die werdende Mutter, rührt sich. Karl geht zu ihr. Spricht zärtlich einige beruhigende Worte und streicht mit seinen Händen über ihren dicken Bauch. Laura beruhigt sich sofort unter seiner Berührung.
Seine rauen Hände … ganz sanft.
Jetzt trinken wir noch ein Glas, dann gehst du am besten ins Bett und ich lege mich hier auf mein schmales Lager und warte, bis es Madame gefällt, endlich niederzukommen.
Karl hat wieder zu seinem Humor zurückgefunden. Er wünscht Tanner eine gute Nacht. Tanner ihm und seiner Laura eine gute Geburt und verlässt den Stall.
Draußen ist es jetzt empfindlich kalt. Der Himmel ist voller Sterne. Tanner glaubt einen schnell vorüberziehenden Satelliten zu sehen.
Gute Reise, sagt er leise in seine Richtung und schon ist er wieder verschwunden.
Vielleicht war es auch nur ein hoch fliegendes Flugzeug, das ans andere Ende der Welt fliegt. Vielleicht nach Australien.
Tanner schaut zu Boden und erinnert sich an den Plan, vielmehr an die leidenschaftliche Idee aus seiner Kindheit, ein Loch durch die Erde zu bohren, um den Kängurus guten Tag sagen zu können.
Er verschiebt einmal mehr die Ausführung dieses Plans und geht die Außentreppe zu seinem Zimmer hoch.
Er hat nicht erwartet, dass noch Licht in der Küche brennt, aber enttäuscht ist er trotzdem. Auch Rosalind wartet nicht auf ihn. Wahrscheinlich hat sie Besseres zu tun, als einem allein stehenden Zimmerherr ein vielstrophiges Schlaflied zu singen.
Auf dem Display seines Telefons, das er heute Nachmittag in seinem Zimmer vergessen hat, ist eine Kurznachricht angezeigt. Er ruft die Combox an und freut sich, von ihr zu hören.
Wenigstens haben mich noch nicht alle Frauen vergessen, stöhnt er selbstironisch in Richtung von Leonor Finis Mädchenporträt, das auf dem Tisch liegt.
Hallo! Hallo, mein liiiiiiieber Tanner. Wenn sie gut gelaunt ist, nennt sie ihn Tanner, und wenn sie etwas von ihm will, wird das i in lieber auf mindestens sieben i ausgedehnt. Also Vorsicht, Tanner!
Bist du gut angekommen in deiner neuen Bleibe? Sind die Leute nett? Aber das kannst du mir ja morgen erzählen. Stell dir vor, wir fliegen morgen ganz früh mit der Compagnie von Stuttgart weg und haben eine Zwischenlandung in der Weltstadt, mit ungefähr einer Stunde Aufenthalt. Und es wäre sehr liiiiiiieb, wenn wir uns da treffen könnten. Das ist ja nicht weit weg von dir, und mit deinem schnellen Ford. Also,