Sie schweigt etwas zu lange, als dass er denken könnte, sie würde ihm glauben. Obwohl er eigentlich die Wahrheit gesagt hat. Beinahe.
Gut, Tanner, ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen!
Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schließt die Augen. Ihre Hand auf dem großen Kopf der Katze bewegt sich nicht mehr. Auch der Kater hat seine Augen geschlossen.
Plötzlich spricht Honoré leise. Tanner hat ihn nicht kommen hören.
Pst! Kommen Sie. Madame will jetzt schlafen. Manuel fährt Sie zurück.
Er nimmt ihm die Wolldecke ab und sie gehen leise aus dem Salon.
Zurück im Korridor, der jetzt erleuchtet ist, sieht man tatsächlich japanische Schwerter an der Wand hängen.
Falls es nicht mehr regnet, möchte ich ganz gerne zu Fuß gehen. Es hat aufgehört. Es würde sogar ein bisschen die Abendsonne scheinen. Wenn sie nicht schon untergegangen wäre!
Das Wort Sonne betont Honoré ganz übertrieben und Tanner befürchtet schon, der Zwerg falle wieder in seine Falsett-Kauderwelsch-Nummer zurück. Der steckt ihm aber einen Zettel in die Hand und ein letztes Mal legt er den Finger auf seinen Mund.
Pst!
Und leise singt er zum Abschied. Aufwiederschön … aufwiederschön!
Er geleitet Tanner bis zur Tür und hebt zum Gruß seine kleine Hand.
Ach, und ich wollte doch die Alte fragen, wie das Pferd heißt, seufzt Tanner und schaut nach, was auf dem Zettel steht, den ihm Honoré zugesteckt hat.
Morgen, Friedhof, 17.00 Uhr. Bitte!
Unterschrift: R.
VIER
Die Küche ist hell erleuchtet. Das Licht sieht man schon von der Kurve aus, beim Friedhof, wo vorhin der Geländewagen ins Rutschen kam. Ein Leuchtfeuer in der dunklen Landschaft.
Vermutlich hat Tanner das Nachtessen verpasst. In der Hektik des Aufbruchs um fünf Uhr hat er auch sein Telefon vergessen. Er beschließt, trotzdem in die Küche zu gehen, denn irgendwie fühlt er sich zu einer Erklärung verpflichtet. Außerdem ist er bis auf die Knochen durchfroren und hat Hunger.
Ruth und Karl sitzen am Tisch mit einer verschlossenen Flasche Wein und drei Gläsern. Sie haben also auf ihn gewartet, denkt er zufrieden.
Es ist noch nicht so weit. Wir können leider die Flasche noch nicht öffnen.
Karl sagt das mit echtem Bedauern. Tanner macht ein verständnisloses Gesicht.
Meine schöne Laura kriegt doch heute ein Kalb. Ich hatte damit gerechnet, dass es vor dem Nachtessen kommt, dann hätten wir mit Ihnen auf das neugeborene Mädchen anstoßen können.
Beim Wort Mädchen zwinkert ihm Karl beziehungsvoll zu.
Ach so, ja, das habe ich ganz vergessen. Ich werde gleich in den Stall gehen und die Mutter fragen, ob ich Pate sein darf. Ich würde so gerne als Pate ein kleines, kuhäugiges Mädchen verwöhnen. Oder ist die Position schon vergeben?
Tanner ist froh, wieder in der warmen und freundlichen Küche bei unkomplizierten Menschen zu sein. Sie lachen herzlich.
Ruth fragt ihn, ob er hungrig sei, sie habe einen Rest Gemüsekuchen für ihn warm gestellt. Tanner könnte sie auf der Stelle küssen …
Sie hat sich in der Zwischenzeit umgezogen. Man muss zugeben, dass die schwarze Cordhose und das weiße Männerhemd ihr bedeutend besser stehen als der blaue Rock und der viel zu weite Pullover von heute Nachmittag. Ihre dichten, braunen Haare hat sie frech mit einem Kamm zur Seite gesteckt. Das Rot ihrer Lippen ist auch deutlich intensiver.
Was für eine Verwandlung …
Tanner nimmt dankend an und sie holt Teller und Besteck aus dem Schrank. Und? Für was haben Sie sich entschieden? Malaga oder Orangensaft?
Karl fragt das in die Stille der Küche. Alle drei lachen.
Tanner erzählt ihnen von Madame's wässrigem Geschäft und Honoré's Dicht- und Reimkunst. Diesmal lachen sie, bis die Tränen kommen, und reimen da weiter, wo Honoré aufgehört hatte …
Dann erzählt er ihnen von der gestrigen Begegnung am Friedhof und dass die Alte sich bei ihm bedanken wollte. Tanner sagt jetzt auch schon selbstverständlich die Alte.
Ob er denn sonst niemand gesehen habe, fragt Ruth und er antwortet wahrheitsgetreu mit Nein.
Ein zugesteckter Zettel ist ja noch kein Treffen …
Der Gemüsekuchen schmeckt ausgezeichnet. Ruth hat für den Kuchen den Rest von mittags geschickt verwertet. Das Gemüse hat sie mit einer Sauce aus Eiern, Sahne und Käse aufgefüllt und mit schwarzen Oliven bespickt. Mit Genuss nimmt Tanner den zarten Geschmack von Muskat und von trockenem Sherry wahr, mit dem sie die Füllung gewürzt hat. Und er würde seine Krawatte verwetten, die er schon auf dem Heimweg ausgezogen hatte, dass sie den Blätterteig selber gemacht hat. Mit ihren schönen Händen.
Wie sich ihre Haut wohl anfühlt?
Während er heißhungrig isst, meint Karl trocken, es sei auf jeden Fall besser, dass die einem etwas schuldig seien als umgekehrt.
Seinem Tonfall ist anzumerken, dass er aus schmerzvoller Erfahrung spricht.
Tanner hält es für ratsam, das Thema im Moment nicht zu vertiefen, und sagt leichthin, er hätte gesehen, dass sein Auto draußen immer noch alle viere von sich streckt. Der Garagist hätte wohl noch keine Zeit gehabt. Es sei aber egal.
Karl verdreht die Augen.
Auf den ist leider kein Verlass! Ich werde ihn Montag früh gleich nochmals anrufen und ihm Feuer unterm Hintern machen.
Sie können gerne unser Auto ausleihen, falls Sie morgen ein Auto brauchen, Simon. Das wäre kein Problem.
Karl nickt beipflichtend und Tanner bedankt sich artig, versichert ihnen aber, dass er morgen nicht wegfahren müsse. Morgen sei ja Sonntag.
So kann der Mensch sich irren …
Tanner ist mit dem Essen fertig. Karl erhebt sich.
Ich muss mich um die werdende Mutter kümmern. Wenn Sie mich begleiten, stelle ich Sie Laura als zukünftigen Paten ihrer Tochter vor.
Tanner blickt fragend zu Ruth. Sie antwortet sehr schnell. Ohne seinem Blick zu begegnen.
Gehen Sie nur mit, Simon. Ich wasche noch das Geschirr ab, dann gehe ich sowieso ins Bett. Ich lese gerade ein sehr spannendes Buch.
Bevor er antworten kann, nimmt Karl eine Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank. Er hat das Gefühl, Karl möchte nicht, dass Ruth mit ihm weiter über den Besuch bei der Alten spricht. Er fügt sich in sein Schicksal, obwohl er nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, noch ein wenig mit Ruth über den Finidori Clan zu plaudern.
Auch hätte er gerne, quasi als Dessert, noch mal ihren Vanille- und Zitronenduft geschnuppert. Ohne sich die Hand zu reichen, verabschieden sie sich. Sie schaut ihn nur flüchtig an.
Draußen im Gang schubst der große Hund seine feuchte Nase in die Hand von Tanner. Er erschrickt zuerst, dann streichelt er ihn zwischen den Ohren.
Er mag Sie, Simon, meint Karl gut gelaunt.
Er heißt Sabatschka. Das ist russisch. Und heißt Hündchen. Meine Frau hatte damals einen russischen Film gesehen. Mit einem Hund, der so hieß. Ich habe den Film nicht gesehen.
Aber ich habe den Film gesehen, denkt sich Tanner. Sieh einer an.
Ruth schaut sich russische Filme an.
Als Ruth den Film gesehen hat, war der Hund noch ein winziger Wollknäuel. Jetzt ist er halt gewachsen, aber der Name ist ihm geblieben. Zum Glück weiß er nicht, was der Name bedeutet, sonst wäre er beleidigt, sagt Karl lachend und sie gehen gemeinsam aus dem Haus.
Sabatschka.