Schwarze Frau, weisser Prinz. Paula Charles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paula Charles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038552284
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Doch das Geldkörbchen war bereits unter ihrer Nase, bevor sie überhaupt Platz genommen hatte, und der Priester erinnerte sich nicht mehr an sie. Aber sie war stolz, dass sie Gott näher war, und im Dorf wurde sie respektiert. «Hallo, Mades, wie geht's dir», hiess es, und oft gab uns jemand einen Penny für ein Eis. Am Montag war Gran mit vielen von ihnen wieder auf der Plantage, sie pflückten Baumwolle und summten die Lieder, die sie in der Kirche gelernt hatten. Die Missionare assen aus Silber, die Kirche bezahlte ihnen alles, mit Granmas Schweiss. Uns blieb eine Bibel, die wir nicht verstanden. Granma rührte sie kaum an, denn es war Gottes Wort. Wir waren jedoch immer noch hungrig.

      Die Moral der weissen Christen bestimmte unser Leben, aber wir wussten nicht, dass sie selber diese nie praktizierten. Uns in St. Lucia war es nicht erlaubt, uns zu küssen und Händchen zu halten. Uns war nicht erlaubt, mit Müttern und Freundinnen über unsere sexuellen Gefühle zu sprechen. Wir hatten grossen Respekt vor diesen Christen. Es war ein Schock, als wir ihnen später in ihren Ländern begegneten. Was wir dort sahen, war widerlich.

      Von Zeit zu Zeit erlaubte uns Granma, ans Meer zu gehen, unter der Bedingung, dass sie mitkam. Darüber war ich nicht immer glücklich, denn sie führte uns an den langweiligsten aller Strände. Sie konnte sich die Busfahrt zu den grossen, schönen Stränden, wo ich Gleichaltrige treffen und schöne Leute hätte anschauen können, nicht leisten. Vielleicht fühlte sie sich dort auch nicht willkommen in ihren selbstgenähten Pumphosen, die nicht zu einer alten Lady passten. Auch ich fühlte mich in dieser Art Unterwäsche nicht wohl.

      Wir pflegten frühmorgens vor Sonnenaufgang aufzubrechen, um einen möglichst langen Tag am frischen blauen Meer zu haben. Ben und ich hatten das Privileg, britische Badeanzüge zu besitzen, die wir nur bei diesen seltenen Gelegenheiten, etwa zwei Mal im Jahr, tragen konnten. Vielleicht wünschte sich Granma, sie wäre jünger, um zumindest hinter uns her rennen zu können, wenn wir ungezogen waren. Aber sie war nicht nur alt, sie war müde und hatte nichts, nicht mal uns, denn eines schönen Tages würden wir sie oder würde sie uns für immer verlassen. Ben und ich hatten nur einander zum Spielen, und an diesem speziellen Strand gab es nur wenige Leute aus anderen Dörfern. Granma sass weit vom Wasser entfernt und weit weg von der Sonne. Schwarze setzen sich nicht in die Sonne. Wir waren immer erstaunt, dass die Weissen so viel Hitze ertragen konnten, bis sie sich häuteten oder wund waren.

      Ben und ich liebten diese wertvollen Stunden. Wir hüpften ins Wasser, spielten und bespritzten uns. Meistens war Ben sehr grob, Salzwasser kam mir in die Augen. Wir durften nicht ins tiefe Wasser, Granma liess uns keinen Moment aus den Augen. Manchmal schloss sie sich uns an, kam langsam auf uns zu, hielt ihre handgemachte Unterwäsche ohne Oberteil fest. Sie nahm unsere Ärmchen, um uns für das nächste Jahr zu segnen. Sie gab uns je drei Handvoll salziges Meerwasser zu trinken, rieb uns Kopf und Gesicht mit dem heilenden Wasser ein, murmelte einige Worte. Dann brachte sie uns zurück ans Ufer und gab uns unter einer Palme etwas zu essen. Wir sassen einander gegenüber, assen das Sandwich aus Brot und Butter, und dieses Brot war etwas Besonderes.

      Ich konnte in Granmas Gesicht lesen, dass sie stolz und glücklich war, uns bei sich zu haben. Wir waren ihre ganze Welt. Ich blickte ihr so tief in die Augen, dass sie beunruhigt aufschrie: «Paula, starr nicht so!» Dann baten wir sie, uns einen letzten Sprung ins Wasser zu erlauben. «Nein, sagte ich euch, Schluss, hört ihr!» «Ja, Granma», sagten wir enttäuscht. Es hatte in ihrer Familie genügend Tragödien gegeben, sie hatte Angst, wir könnten ertrinken. Mir wäre dies einige Jahre später beinahe passiert. Ich kann bis heute nicht schwimmen. Für viele Leute in St. Lucia war das Meer zum Heilen und Fischen da, oder einfach zum Anschauen und Träumen, aber nicht zum Schwimmen.

      Die Sonne ging unter, wir packten unsere Sachen zusammen. Das Sandwich wickelten wir in braunes Papier, alles musste sauber sein. Granma wusch unsere Tassen, sie stützte sich dabei mit schmerzendem Rücken schwerfällig auf. Ben und ich bückten uns und halfen ihr wieder auf ihre schwachen Füsse. Sie lächelte mit ihren bräunlichen Zähnen, wovon etwa zehn übriggeblieben waren. Die schlechten Zähne hatte sie sich mit einem Flaschenöffner und mit Hilfe einiger Männer selbst gezogen. Ich erinnere mich an die Szenen, jeweils sonntags nach der Kirche auf dem Marktplatz. Zwei Männer hielten sie an den Armen fest, einer hielt ihre Beine, damit sie nicht vom wackligen Holzstuhl kippte. Meine alte Lady schrie vor Schmerz, aber keine Träne kam in ihre Augen. Die Leute standen um sie herum und wollten ihr in den Mund schauen. Man gab ihr etwas Rum, um den Schmerz und die Bakterien zu töten. Um sie herum der kleine Markt – Leute kauften frisches Rindfleisch und Schweinefleisch, Brot, Eiswürfel, süsse Kokosblocks, Cutcake, Fischplätzchen und die verschiedensten eisgekühlten Getränke. Solche Leckereien konnte sich Gran meistens nicht leisten, höchstens Kuh- oder Schweinefüsse für eine Suppe.

      Vom Strand zurück ins Dorf brauchten wir bestimmt eine Stunde oder mehr. Es wurde dunkel, Autos ohne Licht brausten uns wie verrückt entgegen, und wir mussten vorsichtig sein, um nicht in den Strassengraben zu fallen.

      Granma schützte uns, wir gingen hinter ihr im Dunkeln. Aus Furcht vor Geistern wagte ich nicht, hinter mich zu schauen. Die Busse fuhren so nahe an uns vorbei, dass ich um meine Füsse fürchtete. «Kommt schon, versucht etwas schneller zu gehen», sagte Gran, «wir müssen von dieser Seite der Strasse weg, es ist zu gefährlich.» Wir erreichten das kleine Dorf, das wir Städtchen nannten. Dort wohnte eine Tante mit ihren zwei Enkelkindern. Dort waren wir zumindest sicher; wenn wir wollten, konnten wir die Nacht über bleiben.

      Als Granma starb, blieben Ben und ich alleine zurück, ohne Mutter, ohne Vater. Mutter war in England, und Vater war bereits gestorben, als ich zwei Jahre alt war. Ich fühlte mich verloren unter der karibischen Sonne, als wir zu Auntie Elle, Mutters Schwester, in eine bessere Wohngegend zogen, welche Granma verabscheut hatte.

      Ich war in einem Alter, in dem die Dinge für mich langsam Sinn zu machen begannen. Die Kinder meiner Tante waren unbeschwerter – verwöhnt, könnte man sagen. Sie waren Stadtkinder, ich war für sie eine aus dem Busch, aber immerhin eine Puppe zum Spielen.

      Es war eine traurige und harte Zeit für mich, bei meiner Tante Elle. Ben und ich wurden wie Dienstboten behandelt, gehörten nicht wirklich zur Familie. Aber ich muss zugeben, es gab auch einige interessante Momente, besonders was Jungs betraf. Ich tat beinahe alles für Aunties Kinder, nur um mit ihnen in die Stadt und an den Strand gehen zu können. Wir waren beinahe jeden Sonntag am Strand, mit Musik, Essen, Freundinnen – aus reichen Familien, würde ich sagen – und vielen Jungs. Wir waren alle jung, keine Erwachsenen in der Nähe. Auntie Elle war viel zu dick, erst recht für einen Badeanzug, nur selten kam sie doch mit. Man konnte sehen, dass Auntie eine sehr schöne Frau gewesen war, mit einer guten Figur, aber jetzt hing alles herunter, nur ihr Gesicht blieb jugendlich frisch, irgendwie unschuldig.

      An diesem Strand hatte ich die Gelegenheit, etwas von einem anderen Leben zu sehen. Ich sah braungebrannte, glücklich aussehende Europäer am Sandstrand spielen. Ob sie ein Ferienhaus am Strand gemietet hatten? Oder gehörte es gar ihnen? Sie sahen makellos aus und so, als hätten sie keine Sorgen auf dieser Welt. Wir Armen dagegen hatten an unserem Sandstrand nur unser Lachen. Sie starrten uns an oder übersahen uns, ich fühlte mich wie in einem anderen Land und schmutzig. Ihre Badeanzüge sahen glänzend und teuer aus, ihre gebräunte Haut war wunderschön, verglichen mit unserer. Wir wussten nicht, dass sie stundenlang, mit Sonnenmilch eingecremt, an der Sonne gelegen hatten, um diese Farbe zu bekommen. Kein Dreck hatte diese seidigen Körper berührt, dachten wir, sie hatten in ihrem Leben nichts Schlechtes gesehen. Ihre Kinder spielten mit Bällen, für die unsereins einen Monatslohn hätte zahlen müssen – nur um sich eine Weile zu vergnügen! Sie hatten sogar mehr als einen Ball. Wir mussten uns unser Spielzeug selber machen; es machte Spass, das Ergebnis zu sehen und es mit dem ganzen Dorf zu teilen. Alle waren stolz auf uns, die Freude war unbeschreiblich.

      Die Erwachsenen lagen auf ihren Tüchern oder in Liegestühlen, weit weg von uns. Sie luden uns nie zum Spielen ein, und wir verstanden nicht warum. Wir wollten eigentlich nicht immerzu hinsehen. Insgeheim fragte ich mich oft, woher diese Leute kamen. Ich wollte sie beriechen, sie spüren, sie kennenlernen. Ich wusste nicht, dass diese Leute so viel Hass gegen uns in sich hatten, dass sie einige von uns gar töteten. Ich wusste nicht, dass ich in ihren Augen ein Affe war. Ich wusste nicht, dass ich eine Schwarze war und damit zweitklassig. Allein schon ihnen nahe zu sein war wie das Paradies, wie eine andere